Veranstaltungbericht Teil 2 – Der Paragraph 114 (Teil 1)
Wann wird es für den Staat opportun, seine repressiven Werkzeuge anzuwenden, und warum bestimmt Sicherheitspolitik eigentlich die politische Tagesordnung? Und wie müsste unsere Reaktion angesichts dessen ausfallen? Am Beispiel des neuen § 114, der so genannte „tätliche Angriffe gegen Vollstreckungsbeamte und ihnen gleichgestellte Personen” in Zukunft mit mindestens drei Monaten Knast sanktionieren soll, lassen sich einige grundsätzliche Überlegungen anstellen; und eine Betrachtung erfolgender Reaktionen von linker Seite auf das Gesetzesvorhaben verweist auf einige eigene Irrtümer und einer damit einhergehenden Unfähigkeit angemessen zu reagieren. Diese Reaktionen reduzieren die Auswirkungen des neuen Gesetzes meist auf ein Demonstrationsgeschehen. Wer jedoch das staatliche Motiv für dieses mit dem alten Widerstandsparagraphen 113 symbiotisch verknüpfte neue Gesetz verstehen will (das auch in der Rechtswissenschaft höchst umstritten ist), muss sich mit der Institution der Polizei und der ihr in der Gesellschaft zugedachten Aufgabe beschäftigen (das Argument des Schutzes von Feuerwehr und Rettungsdiensten kann getrost beiseite gelassen werden; gemeint ist die Polizei.)
Wenig erstaunlich ist, dass es die weitverbreitete Meinung gibt, Rolle und Aufgabe der Polizei seien eigentlich klar. Denn Lobbyvertreter der Polizei und Medien arbeiten kräftig an einem einfachen Bild: Aufgabe der Polizei ist es, Verbrechen aufzuklären, zu verfolgen und möglichst zu verhindern. Die Polizei sei daher eine Institution für die „Sicherheit” einzelner in der Gesellschaft. Dementsprechend laufen auch die öffentlichen Debatten um zu wenig Personal, zu alte Ausrüstung und zu wenig Befugnisse ab. Referenz sind Einzelfälle, besonders empörenswerte Fälle von kriminellen Handlungen und individuelle Bedrohungsszenarien. Suggeriert wird damit, „Polizei“ käme jedem zugute. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Entstehungsgeschichte der Institution „Polizei” zeigt, dass es, als es – beispielsweise in England oder in einigen Städten der USA – im 19. Jahrhundert zur Gründung einer zwischen Militär und selbstorganisiertem Schutz angesiedelten Institution „Polizei“ kam (vgl. dazu hier) gar nicht um eine Bekämpfung von Verbrechen ging. Die Notwendigkeit zur Gründung einer solchen Institution ergab sich aus einer rasanten Veränderung der Städte zu Beginn der Industrialierung; anwachsende Bevölkerungen, die Umstrukturierung der Arbeit zur Lohnarbeit und das Entstehen einer neuen Klassengesellschaft, die ein zuvor bestimmendes, nachfeudales Stände- und Zünftesystem ablöste, führten in den großen Städten zu zunehmenden Interessenkonflikten einzelner Bevölkerungsgruppen mit anderen: Unternehmensbesitzern und Arbeitern, Arbeitern und Tagelöhnern aber auch von Alteingesessenen mit neu in die Stadt drängenden Einwanderergruppen.
Die zunehmenden Zusammenrottungen und Streiksließen sich mit bis dahin agierenden nebenberuflichen, durch Land- oder Firmenbesitzer zusammengestellte Trupen oder Freiwillige, die in einem meist rotierenden System eine „Wächterfunktion” ausgeübt hatten, nicht mehr unter Kontrolle bringen; zumal nicht sicher war, ob sie in einem Konflikt nicht selber darüber entschieden, ob sie flüchteten oder gar die Seite wechselten. Die neu geschaffene Institution Polizei sollte die (stadt-) gesellschaftlichen „Nebenberufler“ deshalb durch hauptberufliche Kräften ersetzen. Denn in Fällen, in denen die Kontrolle zu entgleiten drohte, wurde zur Bekämpfung von Streiks und Aufständen zuvor im Notfall Militär eingesetzt, was oft zu gewalttätigen Einsätzen gegen die Menschenmengen führte. Unter Streikenden kam es zu vom Militär getöteten Arbeitern, was nicht selten eine noch größere Entschlossenheit der Streikenden beim nächsten Mal auslöste. Die Kontrolle der neuen Stadtgesellschaften und die Sicherung der Klassengegensätze war lückenhaft. Die „Polizei” sollte diese Lücke füllen und zu einem effektiven, in der Regel aber weniger letalen Mittel werden, gesellschaftliche Konflikte einzuhegen und möglichst schon vor dem Entstehen zu erkennen. Von Anfang an wurde die Polizei, anders als das beim kasernierten Militär möglich war, deshalb als eine im Alltag der Menschen verankerte Institution konzipiert. Die Übertragung von Verbrechensbekämpfung von einer allgemeinen „Awareness” auf die neue Institution diente dazu als Vehikel. Wo zuvor wortwörtlich ein „Haltet den Dieb” zum kollektiven Versuch führte, eine Tat zu verhindern und bedrohtes Eigentum zu schützen, wendeten sich von Diebstahl Betroffene fortan an die im Viertel präsenten Polizisten. Sie wurden nach und nach zu den umgangssprachlich noch lange präsenten „Schutzmännern“, die vor Ort respektiert sein sollten und durch ihre Kenntnisse und Kontakte frühzeitig von sich anbahnenden gesellschaftlichen Konflikten zu erfahren.
Die Polizei befasst sich “mit Menschenmengen, Wohnvierteln, anvisierten Teilen der Bevölkerung – alles kollektive Einheiten. Sie mögen das Gesetz anwenden, um dies zu tun, aber ihre allgemeinen Richtlinien erhalten sie in der Form von Vorgaben ihrer Vorgesetzten oder aus ihrer Berufserfahrung. Die Direktiven haben regelmäßig offen kollektiven Charakter – etwa die Kontrolle über ein widerspenstiges Viertel zu erlangen.”
(aus „Origins of the police”)
Die Institution „Polizei” ist seit ihrer „Erfindung” als Ordnungsfaktor zur Einhegung von Menschenmengen im öffentlichen Raum intendiert. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, soll sie diejenigen die sich dort aufhalten, kontrollieren. Sie wurde dafür mit der Definitionsmacht ausgestattet, darüber zu befinden, was die „Ordnung” öffentlicher Räume bedroht oder stört und was eben nicht. So aufgefasst, sind viele Entscheidungen heutiger Einsatzleitungen oft weniger ideologisch als systemimmanent zu verstehen. Eine angemeldete Demo ist nach Polizei-Definition beispielsweise zunächst keine Störung der Ordnung im öffentlichen Raum, zu der notgedrungen auch das Recht zählt, in einem eng von der Polizei bestimmten Rahmen demonstrieren zu dürfen. Da eine Demo für diesen Rahmen jedoch stets eine Gefährdung darstellt, wird sie mit großem Einsatz beobachtet und begleitet. Der polizeiliche Rahmen wird bei „Classless Kulla“ treffend so beschrieben: „Die Polizei legt fest, wer wann und wo demonstriert, welche Auflagen vorher laut vorgelesen werden müssen, wann sich die Demo wie schnell bewegt und wann sie stehenbleibt, wie die Beteiligten gekleidet sind, wie groß ihre Transparente sind, und in vielen Fällen auch, wann und wo die Demo endet.“ Gegendemonstrationen, zum Beispiel gegen einen angemeldete Nazi-Aufmarsch, entsprechen hingegen per se nicht der polizeilichen Definition eines „geordneten” Ablaufs. Sie stören und bedrohen noch weiter die von der Polizei gesetzten Rahmenbedingungen. Diese, Alltag und Äußerungen eines Jeden (mit-) bestimmende Rolle der Polizei wurde und wird natürlich nicht von vornherein akzeptiert. Um eine Institution zu implementieren, die definitorisch wie durch das ihr zugedachte „Gewaltmonopol” ganz faktisch jederzeit bestimmen kann, wo öffentlicher Raum beginnt, wo er aufhört und wie sich beliebige Situationen in ihm zuzutragen haben, bedarf es neben einer entsprechenden Gesetzgebung einer weiteren, psycho-sozialen Voraussetzung: Sie benötigt besonderes Ansehen und eine herausgehobene Stellung gegenüber den zu Kontrollierenden. Sie benötigt den Respekt der Kontrollierten und im Konfliktfall auch die Unterstützung der anderen im öffentlichen Raum Anwesenden.
In frühen Zeiten, etwa zum Ende des vorletzten, noch von feudalen Staatsstrukturen geprägten Jahrhunderts, gab es den erforderlichen Respekt qua Verfügung und mittels autoritären Auftretens. Polizisten waren die Vertreter des gottgegebenen Herrschers und als solche selbstverständlich mit dem Definitionsmonopol ausgestattet. (In den USA sah es anders aus. Hier erfolgte u.a. ein langes Ringen um das Gewaltmonopol, das bis heute andauert.) Die Lage der Polizei in Europa änderte sich mit der voranschreitenden Demokratisierung und Politisierung der Gesellschaft. Der „natürliche Respekt“ vor den die Monarchie repräsentierenden Polizisten schwand. Die Polizei war zunehmend auf eine andere ideelle Absicherung angewiesen, wollte sie ihre Rolle in den Vierteln und bei der Kontrolle von Menschenmengen weiter erfüllen ohne dabei zu sehr bedrängt zu werden. Zumal es bis zum Ende des letzten Jahrhunderts zwischen Demonstrierenden und Polizisten einen viel geringeren Unterschied in der Ausrüstung gab als heute. An die Stelle des die Monarchie repräsentierenden „Schutzmannes“ trat das Bild des „Freund und Helfers“, das u.a. durch Heinrich Himmler als Innenminister des nationalsozialistischen Deutschland geprägt wurde und bei PolizistInnen ein bis heute beliebter Euphemismus ist. Der „einfache“, aus der Bevölkerung kommende Polizist, der aufopferungsvoll den Schutz vor den Gefährdungen des Zusammenlebens gewährleistet, rückte in den Fokus der (Selbst-) Darstellung. Die Stilisierung der bei der Entführung Hanns Martin Schleyers getöteten Sicherheitskräfte als „unschuldige Opfer“ stellt einen Höhepunkt dieser gewünschten Sichtweise auf Polizisten dar. Mehr als Schleyers Entführung sollte ihr Tod einen Angriff RAF auf die Gesamtgesellschaft bedeuten – sie hatten schließlich nur „ihre Arbeit gemacht”. Durch diese Darstellung der Polizei als „aus dem Volk kommend” gelang es, sie als Teil der Gesellschaft im Bewusstsein zu verankern, wer Polizisten angriff griff die Gesellschaft an. Angriffe auf Polizisten sollen deshalb doppelt zählen: „Es wird ja nicht nur der Polizist als Mensch angegriffen; es wird ja der Staat angegriffen.” (CDU-Innenpolitiker Armin Schuster im DLF, Februar 2017)
Anschließend wurden die Unterschiede in Bewaffnung und Ausrüstung dann deutlich vergrößert; inzwischen müssen Menschenmengen auf jede Art so genannter „passiver Bewaffnung“ wie Helme oder Gesichtstücher verzichten, während aus den Polizisten anonyme, gepanzerte „Riot-Cops“ wurden. Damit kehrten jedoch auch die bereits von den Militäreinsätzen früherer Zeiten bekannten Akzeptanzprobleme zurück. Eine offensichtliche Unterlegenheit führt bei Beherrschten zwangsläufig zu einem Mangel an Respekt; er wird durch die alte Angst ersetzt. Auch wenn das bei der Kontrolle von Menschenmengen hingenommen wird, bei der im Alltag verankerten Polizei stellt das ein großes Problem dar. Angst führt dort zu einer Distanzierung von der Polizei, es besteht die Gefahr, dass sich die Menschen der Kontrolle durch die PolizistInnen entziehen. Für die eigene Überhöhung ist die in den Vierteln agierende Polizei daher heute vermehrt auf die Unterstützung durch die Medien angewiesen. Das erledigen unter anderem Presseartikel, vor allem die täglichen kleinen Meldungen der Lokalpresse, die ständig die Rolle der Polizei als Korrekturfaktor bei bedrohlichen Vorfällen herausstreichen. Fast immer wörtlich aus Polizeiberichten abgeschrieben, stellen sie grundsätzlich die Sicht der Polizei auf beliebige „Vorfälle” dar. Eigene Recherche zum Thematisierten wird zumeist nicht geleistet. In Wuppertal ragt hier die Übernahme der Polizeisicht beim versuchten Mord von Nazis an einem Antifaschisten 2015 am AZ als Negativbeispiel heraus, aber auch die Empfehlung des WDR-Senders „1Live“ anlässlich der Proteste gegen den AfD-Parteitag in Köln, sich der Einfachheit halber über den Twitter-Kanal der Kölner Polizei über das Geschehen zu informieren, zeigt, wer die Medienarbeit macht, wenn es um Konfliktsituationen geht. Doch selbst wenn einmal nachrecherchiert wird, wird die Sichtweise der Polizei oft im Umkehrschluss bestätigt. Wenn in einem Artikel von “unverhältnismäßiger Polizeigewalt” die Rede ist, bedeutet das, dass es auch eine verhältnissmäßigere gibt. Der Polizei wird damit neben dem staatlichen Gewalt- auch das diskursive Monopol dazu überlassen, warum etwas, wann, wo und durch wen geschah – oder was eben nicht (wenn es in ihren Berichten gar nicht vorkommt). Sprache und Einschätzungen der Polizei erhalten so einen als Journalismus getarnten Kanal zur lokalen Bevölkerung.
„Die Polizei hat dies verhindert, jenes aufgedeckt, sie vermeldet, beklagt, warnt. (…) Meldungen bestehen aus dem, was die Polizei sagt – ihre Sprache, ihre Einschätzung, ihr Selbstverständnis und vor allem ihre Feindbestimmung prägen die öffentliche Berichterstattung (…)”. Die Polizei definiert, „was ‚militant’ heißt, wann etwas ‚vereinzelt’ geschah, wer überhaupt Agierende und Reagierende sind, wer zum Handeln gezwungen war und (…) was sich ‚notwendig machte’ (…)”. (aus „All Cops are Staatsgewalt”)
Den Rest besorgt eine Unterhaltungsmaschine, in der jeden Abend wohlwollende, nachdenkliche, höchst menschliche und idealistische Kommissare an der Seite der Bedrohten, Bedrängten und Erniedrigten die eigene Ehe und Gesundheit riskierend über die Bildschirme in die Wohnzimmern flimmern. Das alles führt zu unvorstellbar grandiosen Werten, wenn die Bevölkerung nach ihrem Vertrauen in Institutionen gefragt wird. Die Polizei rangiert bis heute unangefochten auf dem ersten Platz, vor der Justiz (was auch ein schlechter Witz ist…). 80% schenken der Polizei ihr Vertrauen. Und obwohl das ein Indiz dafür ist, dass die Verankerung der Ordnungsmacht in der Gesellschaft kaum geringer scheint als zu Kaisers Zeiten, spricht trotzdem viel dafür, dass der Polizei zunehmend unwohl in ihrer Haut geworden ist. Die bei der Einführung des neuen Paragraphen 114 viel zitierten Statistiken, die einen Anstieg angeblicher Gewaltdelikte gegen PolizistInnen belegen sollen, sagen nämlich zweierlei aus. Neben einer in Polizeikreisen virulenten Tendenz zur Kriminalisierung des Gegenüber gibt es wohl tatsächlich eine subjektiv empfundene Bedrohungslage, die sich in den auf Aussagen von PolizistInnen basierenden Einsatzprotokollen abbildet (es gibt keine objektive Erfassung ausgeübter Gewalt gegen PolizistInnen, es gibt nur die von ihnen selbst zu Protokoll gegebenen „Vorfälle“). Mit Recht wird kritisiert, deren subjektiven Empfindungen zur statistischen Grundlage eines Gesetzes gemacht zu haben, dass sich jedoch in der Statistik eine offenbar zunehmende Opferperspektive widerspiegelt, ist eindeutig. Wie falsch die so erstellten Statistiken allerdings sein müssen, lässt sich an anderen, vorhandenen objektiven Zahlen ablesen: Beispielsweise an der Diskrepanz zwischen „vollendeter“ und „versuchter schwerer Körperverletzung“. Weist die Kriminalitätsstatistik auf einhundert Fälle von „schwerer Körperverletzung“ 16 Taten aus, bei denen es lediglich bei einem Versuch dazu blieb, verschiebt sich das Verhältnis der „versuchten schweren Körperverletzungen“ zu den „vollendeten“ bei PolizistInnen zu unglaublichen 125 zu 100. Von PolizistInnen wird also ein Vielfaches an „versuchten schweren Körperverletzungen“ angezeigt als im Leben allgemein vorkommen. (Quelle: beck-community)
Wenn Fälle von durch Dienstmüdigkeit oder Corpsgeist bedingten Krankschreibungen und Schmerzen in Abzug gebracht werden, ist die verbleibende Diskrepanz nicht allein durch Gegenanzeigen oder Kriminalisierungsversuche durch die Polizei erklärbar. Ein nicht unwesentlicher Teil muss auf dem subjektiven Gefühl basieren, tatsächlich bedroht oder angegriffen zu werden. Doch woher kommt das Gefühl der Polizei, sich auf so unsicherem Terrain zu bewegen? Es gibt dafür auch objektive Umstände. Beispielsweise ist die Polizei zwar auf ihrem ureigenen Terrain, der Kontrolle von Menschenmengen und Aufstandsbekämpfung so gut ausgerüstet wie nie zuvor, im für das subjektive Gefühl entscheidenden Polizei-Alltag ist sie jedoch oft materiell im Hintertreffen. Wo Protokolle noch auf einem „Windows 97“-Rechner verfasst werden müssen, agiert das Gegenüber mittlerweile mit schnellen und mobilen Devices und Verschlüsselungstechnologien. Medungen zu vom schmalem Gehalt selbst gekauften Schutzwesten und wegen versagender Funkkommunikation bei Einsätzen bevorzugten Mobiltelefonen tragen sicher auch zum Gefühl der Unterlegenheit und Verunsicherung bei. Dort, wo PolizistInnen den für die ungefährdete Kontrolle eines Viertels benötigten Respekt der Kontrollierten erfahren müssten, erleben sie so teilweise das Gegenteil. Zum anderen versagt das nach Anerkennung heischende Bild vom in der Mitte der Gesellschaft befindlichen Polizisten, wenn es auf Menschen trifft, die sich ihrerseits gar nicht als Teil der Gesellschaft erfahren können. Die immer mehr manifestierte soziale Spaltung der Gesamtgesellschaft führt bei jenen 20%, für die die Polizei nicht (mehr) eine Institution ist, der Vertrauen geschenkt wird, zu einem verändertem Verhalten. Menschen, die sich nicht mehr sorgen, bei „Aufmüpfigkeit“ exkludiert zu werden, weil sie auf Inklusion ohnehin keine Aussicht haben, kündigen den seit der „Erfindung“ der „Schutzmänner“ geschlossenen Pakt auf. Sie empfinden deren Arbeit nicht länger als „Schutz“. Als „Frechheit“ empfundene Reaktionen im Alltag nehmen zu, Widersprüche häufen sich und Anordnungen wird nicht unbedingt umgehend und widerspruchslos Folge geleistet. „Es gibt zu viele Mitbürger, die den Menschen in Uniform provozieren und ständig herausfinden wollen, wer der Stärkere ist.” (Gewerkschaft der Polizei im März 2017) Solch „aufsässiges“ Verhalten eines Gegenüber ist für das Verunsicherungsgefühl von PolizistInnen entscheidender als die – ohnehin zurückgehende – reale Gefahr, auf die Fresse zu kriegen. Wie groß der Frust über ihren Polizeialltag bei PolizistInnen ist, ist bei jeder linken Demo zu erleben; also sobald die Polizei auf jenes Spielfeld gelangt, auf dem sie den Vorteil überlegener Ausrüstung hat.
Der Druck, den Lobbyvertreter der Polizei, wie der lange Zeit unausweichliche Rainer Wendt, gemacht haben, ein Gesetz wie den § 114 einzuführen, ist deshalb vor allem auch als Handreichung für eine im Dienst zunehmend frustrierte Polizei zu verstehen. Die durch den neuen § 114 von der Justiz auf das Handlungsfeld der Polizei verlagerte Macht, ein „aufsässiges“ Gegenüber zukünftig qua Anzeige wegen eines vermeintlichen „tätlichen Angriffs“ mit drei Monaten Gefängnis zu „bestrafen“, entfaltet ihre Wirkung vor allem im Alltagsgeschäft, wo sie die Kräfteverhältnisse zwischen Kontrollierenden und Kontrollierten und das subjektive Überlegenheitsgefühl von PolizistInnen wieder herstellen soll. Dass die Politik dem, aller juristischen Vorbehalte gegen das Gesetz zum Trotz, nachkommen wird, spricht für eine auch politische Verunsicherung. Die Tatsache revoltierender reaktionärer Bevölkerungsschichten in Kombination mit einer im Alltag frustrierten Polizei, die in weiten Teilen ohnehin eine berufsbedingte Nähe zu den reaktionären Protesten aufweist, erscheint Herrschenden mit Recht gefährlich. Können sie sich nicht mehr auf die Loyalität der hauptberuflichen „Wächter“ verlassen, gerät die Grundlage ihrer Herrschaft in Gefahr – heute wie zu Zeiten, in denen die Polizei als Institution „erfunden“ wurde. Wie sowas aussehen kann, konnte nicht nur in Sachsen inzwischen mehrfach beobachtet werden: Die Polizei kommt ihrem Auftrag zum Schutz von Politikern oder zur Auflösung von rechten Mobs einfach nicht länger nach, was freilich immer ohne Konsequenzen bleibt. Hierin findet sich die eigentliche Bedeutung des Wortes „Polizeistaat“, das zumeist auf die Bedeutung ausgeübter Polizeigewalt reduziert wird. „Polizeistaat“ bedeutet über versprühtes Pfefferspray hinaus vor allem, gegenüber „Auftraggebern“ in der effektiven Machtposition zu sein. Denn während die „Auftraggeber“, also die Innenminister als Dienstherren, alle paar Jahre bei Wahlen um ihre Position fürchten müssen – also von der durch die Polizei zu gewährleistenden „Aufrechterhaltung der Ordnung“ abhängig sind – sind die örtlichen PolizeipräsidentInnen und PolizistInnen beamtet und werden so auch den nächsten Innenminister im Job überleben. Die Politik ist der Polizei im Ernstfall ausgeliefert und kann sich deren Forderungen kaum entziehen.
Wenn eine Polizeipräsidentin wie die in Wuppertal tätige Birgitta Radermacher im Rechtsausschuss des Bundestages zur Einführung des § 114 fordert, in Zukunft das Fotografieren und Filmen von Polizeieinsätzen zu verbieten (womit Betroffenen auch die letzte Beweismöglichkeit für nicht stattgefundene „tätliche Angriffe“ genommen würde, während die Polizei gleichzeitig mit „Bodycams“ ihre jeweilige Sicht filmisch nach Belieben dokumentieren kann) dann muss davon ausgegangen werden, dass die Politik diese Forderung über kurz oder lang auch umsetzen wird. Diese, auf den real existierenden „Polizeistaat“ verweisende politische Verunsicherung steht in krassem Gegensatz zu einem beständig propagierten Glauben an den „Rechtsstaat“, der aus unerfindlichen Gründen auch in der Linken tief verankert ist. Empörte Verweise auf das Grundgesetz bei der nächsten Umsetzung polizeilicher Forderungen und hilflose Presseerklärungen nach der nächsten gewaltsamen Auflösung eines Protestes zeugen davon, sich über die Situation und die Verfasstheit der Gesellschaft unklar zu sein. Das ist auch zu beobachten, wenn unter Verweis auf „islamistischen Terror“ und auf rechte Propaganda neue gesetzliche Vorhaben diskutiert und umgesetzt werden, die fundamental in jenen imaginierten „Rechtsstaat“ eingreifen. Die Einführung von „Zensurbehörden“ in sozialen Medien, oder die Diskussion über Fußfesseln für an keiner Stelle definierte „Gefährder“-Gruppen sind nur zwei Beispiele. Vor allem die geplanten Fußfesseln für „Gefährder“ sind ein gutes Beispiel für die weiter ausgreifende Verlagerung polizeilicher Definitionsmacht in einen nun auch „präventiven“ Bereich. In diesem wird es der Polizei künftig möglich sein, ihre Funktion unter vollständigem Verzicht auf bestehende Gesetze auszuüben, denn ein „Gefährder“ hat noch gegen kein Gesetz verstoßen. Je nach „Lage“, wie die Polizei es nennt, könnte er oder sie es jedoch vielleicht in Zukunft tun. Von einer, den inzwischen sechzehnjährigen „Krieg gegen den Terror“ begleitenden Gehirnwäsche mit ständigen Bedrohungsszenarien überrumpelt, bleibt das linke Interesse an solchen Gesetzesvorhaben eher bescheiden. Denn oft wird nur wahrgenommen, was für uns selbst bedrohlich ist. Dass das meiste, was zur Zeit diskutiert wird, uns nicht trifft, liegt traurigerweise jedoch nur daran, zur Zeit nicht wirklich als „Gefährder“ wahrgenommen zu werden. Das gilt auch für den § 114, trotz seiner endgültigen Verabschiedung im Bundestag am 27. April, also noch „rechtzeitig“ vor den Protesten zum G20-Gipfel in Hamburg.
Die Stoßrichtung des neuen Gesetzes zielt, wie bereits geschildert, nicht auf die Verhinderung einer unmittelbar bevorstehenden Revolution von links, sondern auf die Wiedererlangung polizeilicher Autorität in den Kiezen und Vierteln. Gleichwohl werden sie selbstverständlich auch gegen antifaschistische Demonstrantionen und linke Proteste zur Anwendung gebracht werden. Die wichtigste Folge für das eigene Handeln im Handgemenge, die durch den neuen Paragraphen eintreten wird: Wie künftig mit von Polizeigewalt Betroffenen solidarisch sein, wenn unser bisheriges Handeln; das Hinlaufen, Festhalten, das versuchte Rausziehen und genaue Beobachten nicht etwa hilft, sondern die Konsequenzen für die Betroffenen sogar verschlimmert? Immerhin sieht der neue §114 vor, die Mindeststrafe von drei Monaten zu verdoppeln, wenn ein „tätlichen Angriff“ von zwei oder mehr Personen „begangen“ wird. Kurz: Gelingt die „Gefangenenbefreiung“ nicht, droht allen Beteiligten ein halbes Jahr Knast wenn die Polizei es will. Trotzdem werden die Folgen des § 114 hauptsächlich für andere anderswo zu spüren sein: Bei „verdachtsabhängigen“ wie bei „-unabhängigen“ Personenkontrollen, beim „Racial Profiling“, bei nicht umgehend und still befolgten „Platzverweisen“ etwa für Wohnungslose, bei berechtigten Ausrastern im Jobcenter, bei Pfändungsmaßnahmen der Behörden oder bei Zwangsräumungen von Wohnungen. Nicht zu vergessen bei von der Polizei erkannten „Gefährdungslagen“ durch an Straßenecken Herumstehende, durch Drogendealer, Biertrinker und ganz allgemein durch Menschen, die allein durch ihre Anwesenheit die Odnung eines öffentlichen Raums „gefährden“ könnten. Ihnen gegenüber werden PolizistInnen die neue Macht ausspielen. Und das meist von der Öffentlichkeit unbemerkt, und wenn, dann mit zustimmender Billigung durch die Mehrheitsgesellschaft, wie Reaktionen auf die immer wieder medienwirksam durchgeführten polizeilichen Großkontrollen in „Gefahrengebieten“, an „sozialen Brennpunkten“ oder allgemein in so genannten „Angsträumen“ zeigen. Der neue Paragraph ist eine Reaktion auf die Verunsicherung der Politik auf die fortschreitende soziale Spaltung. Er bereitet den Rahmen für eine rücksichtslose Kontrolle des öffentlichen Raums. Die Fixierung linker Kritik auf größere Repression gegen mögliche Proteste verkennt das eigentliche Potential des Gesetzes. Sie macht gleichzeitig Chancen für sinnvolle Intervention unsichtbar, denn viele in der Zukunft Betroffene werden die Entwicklungen gar nicht aufmerksam verfolgen. Es gälte deshalb, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, sie über das neue Gesetz zu informieren und Kanäle zu öffnen, auf denen drohende Falschanzeigen und Übergriffe durch die Polizei kommuniziert werden können.
Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um „Sicherheit“ und diese angeblich sicherstellenden Gesetze sind Auseinandersetzungen um öffentlichen Raum, nachdem die Mehrheitsgesellschaft auf das Vertrauen jener, die exkludiert sind zunehmend verzichtet und die Politik den Anspruch auf „Integration“ mehr und mehr zugunsten einer offenen Repression aufgibt. Nach in den letzten Jahren vermehrt ausgesprochenen Verboten öffentlichen Alkoholkonsums und teilweise permanenten Kontrollen einzelner Gruppen, sowie immer weiter privatisierten ehemals öffentlichen Zonen in den Innenstädten wird die nächste Stufe in der Auseinandersetzung darum gezündet, wer den öffentlichen Raum zu was nutzen darf. Allerdings wird mit dem Rückzug eines „moderierenden“ Staates und des Anspruchs seiner Polizei, ohne Ausnahme „für alle“ da zu sein, in den Kiezen und Vierteln auch eine Leerstelle geschaffen, die eine aktive Linke im Kampf um diesen öffentlichen Raum eigentlich besetzen müsste. Das setzte allerdings notwendigerweise Interesse an und Kooperation mit peripheren Gruppen voraus. Das weitgehende Desinteresse in der deutschen Linken an den immer wieder heftig geführten Kämpfen in den französischen Banlieues, wo eine solche Entwicklung im fortgeschrittenen Stadium zu besichtigen ist, und wo manchmal ganze Viertel gegen Polizeigewalt revoltieren, lässt aber zweifeln. Das Verharren in der eigenen Wirklichkeitsblase verhindert aber nicht nur die Wahrnehmung von Verschärfungen der Lage, sondern auch das Entstehen neuer Koalitionen auf der Straße an denen wir beteiligt sind (und nicht fundamentalistische oder sogar rechte Strukturen). Gleichzeitig behindert es auch eine strategische Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen und Brüche. Dabei könnte uns die Entwicklung sogar in die Hände spielen, denn sie eröffnet eben nicht nur neue Interventionsfelder.
Sie müsste ebenso zu einem Hinterfragen eigener Aktionsformen und seit Jahren bestehender Routinen führen – nicht nur, weil die angesprochenen nötigen Interventionenen nicht in der Form legalisierter Proteste ablaufen können, weil den Betroffenen appellativ in Kameras gehaltene Protestschilder weniger helfen als das Herstellen von Überzahl im geeigneten Moment. Auch das Repressionspotential, das sich tatsächlich gegen linke Strukturen richten wird, erforderte zum Beispiel die Überprüfung der Gewohnheit, dass Demonstrationen seit Jahren in der Regel nur noch angemeldet stattfinden. Schon bisher muss die Tatsache, bewusst und ausschließlich auf jene Spielfelder zu mobilisieren, auf denen die Polizei bestens vorbereitet und mit weit überlegener Ausrüstung agiert, mehr als ein Stirnrunzeln auslösen. Wenn künftig auch die Teilnahme an ausschließlich angemeldeten Demos nicht mehr wenigstens mit hinreichender Sicherheit vor einer Haftstrafe schützt, warum sollte dieser Nachteil dann noch länger hingenommen werden? Es nicht mehr zu tun, eröffnete neue strategische Möglichkeiten. Bisher ist es noch zu keinem Anlass ist es gelungen, eine durch Großereignisse bedingte Personalschwäche der Polizei an anderen Orten zu unseren Gunsten auszunutzen. Doch das muss ja nicht so bleiben. Dezentral, kurz, schnell und vor allem unberechenbar müssten unsere Reaktionen ausfallen, gerade weil die Polizei im Alltagsgeschehen den Vorteil der Überzahl und überlegener Ausrüstung nicht – oder nur mit erheblicher Verzögerung – ausspielen kann. Es ist also falsch, den an vielen Stellen laufenden Gesetzesverschärfungen und dem Ausbau des repressiven Apparats nur beklagend und mit Furcht zu begegnen. Natürlich muss umsichtig und vorbereitet damit umgegangen werden; vor allem aber sollte es uns aufzeigen, wie verunsichert Herrschende und ihre Polizei sein können, wenn der gesellschaftliche Grundkonsens zerfällt. Und diese Verunsicherung sollte uns auf jene Handlungsfelder führen, an denen wir sie ausnutzen und verstärken können – gerne gemeinsam mit anderen, die sich im Kampf um den öffentlichen Raum befinden.