Politik in der Rechtskurve: 13.574 WuppertalerInnen wählen rechts.

Im Nach­gang der dazwi­schen gescho­be­nen Ver­an­stal­tung zum Umgang der radi­ka­len Lin­ken mit den dies­jäh­ri­gen Wahlen am 2. Mai mit Bern­hard San­der (die LINKE) im Café Stil Bruch, haben wir uns ein wenig mit den Ergeb­nis­sen der Land­tags­wahl in Nord­rhein-West­fa­len beschäf­tigt.

Ein Hau­fen Zah­len aus Wup­per­tal

Unab­hän­gig vom Ver­hält­nis der radi­ka­len Lin­ken zum Par­la­men­ta­ris­mus müss­te die Beschäf­ti­gung mit den Ergeb­nis­sen einer Wahl Stan­dard radi­kal lin­ker Poli­tik sein. Nir­gends fin­det sich ein so detaill­rei­ches Bild von der Stadt­ge­sell­schaft und der Nach­bar­schaf­ten wie in den Stimm- und Kom­mu­nal­wahl­be­zir­ken. Es sind Hin­wei­se auf Inter­ven­ti­ons­mög­lich­kei­ten und -not­wen­dig­kei­ten und sie hel­fen dabei, die Stim­mungs­la­ge auch in den Quar­tie­ren ein­zu­schät­zen, die nicht zur eige­nen Fil­ter­bla­se gehö­ren. Bei der Betrach­tung der Ergeb­nis­se der Land­tags­wahl haben wir uns auf die Kom­mu­nal­wahl­be­zir­ke beschränkt. Wer sich für noch genaue­re Ergeb­nis­se inter­es­siert, kann sich auf der Sei­te der Stadt Wup­per­tal auch das Abstimm­ver­hal­ten der direk­ten Nach­ba­rIn­nen im eige­nen Stimm­be­zirk anschau­en. Dort kann zum Bei­spiel nach­ge­se­hen wer­den, ob es im direk­ten Umfeld Nazis gibt und wenn ja, wie vie­le.

Das wich­tigs­te Ergeb­nis zuer­st: Die Tat­sa­che, dass die AfD in Wup­per­tal so gut wie kei­nen Wahl­kampf führ­te (es gab z.B. gar nicht erst den Ver­su­ch der Pla­ka­tie­rung), hat der Zustim­mung zur Par­tei in der Stadt kei­nen Abbruch getan. Ihr Ergeb­nis fiel mit 8,51% sogar ein Pro­zent bes­ser aus als im Lan­des­schnitt. Ins­ge­samt gaben 12.585 Men­schen in Wup­per­tal ihre Stim­me der AfD. Mit ihrem Ergeb­nis liegt die AfD im Tal in zwei von drei Wahl­krei­sen auch vor der LINKEN. Nur im Wahl­kreis Wup­per­tal II, das ist Elber­feld (mit dem Ölberg und der Nord­stadt), konn­te die LINKE ein knapp bes­se­res Ergeb­nis erzie­len als die AfD (8,04% zu 7,50%).

Für ins­ge­samt 567 Wup­per­ta­le­rIn­nen war die AfD jedoch noch nicht rechts genug. Sie wähl­ten die NPD. Das waren aller­dings 304 Stim­men weni­ger als 2012. Hin­zu kom­men ande­rer­seits aber 206 Stim­men für die Repu­bli­ka­ner und 81 Stim­men für die kri­mi­nel­len Hard­core-Nazis von „die Rech­te“, sowie 134 Stim­men für die „Initia­ti­ve Volks­ab­stim­mung“, die 2012 alle­samt nicht zur Wahl ange­tre­ten waren.

Anders als die „klas­si­sche Rech­te“, die am Ölberg nie ein Bein auf den Boden brach­te, konn­te die AfD auch dort drei­stel­li­ge Anzah­len an Stim­men ein­sam­meln, wenn auch deut­li­ch weni­ger als im übri­gen Stadt­ge­biet. Im Kom­mu­nal­wahl­be­zirk Hom­bü­chel, in dem die LINKE zweit­stärks­te Par­tei noch vor CDU und den Grü­nen wur­de, erhielt die AfD 155 Stim­men (3,89%), 8 Men­schen wähl­ten hier zudem die NPD; am Höchs­ten waren es 161 (5,25%) Stim­men für die AfD, 9 Stim­men für die NPD. Eine Stim­me gab es hier für die Nazis von „die Rech­te“. Am Osters­baum wähl­ten 290 Men­schen die AfD (8,84%), aber auch 378 die LINKE (11,25%). Hier wähl­ten dar­über­hin­aus 20 Leu­te die Nazis von NPD oder „die Rech­te“. Die Betei­li­gung an der Wahl lag am Osters­baum signi­fi­kant unter dem Stadt­durch­schnitt (knapp 50%), was den gro­ßen Par­tei­en nicht gut getan hat. Es ist der pola­ri­sier­tes­te Kom­mu­nal­wahl­be­zirk der Stadt. Von der Hälf­te der Wahl­be­rech­tig­ten die wähl­ten, wähl­ten 20% die LINKE oder AfD. Der Osters­baum ist mehr denn je ein Nord­stadt-Quar­tier auf der Kip­pe.

Die Hoch­bur­gen der Rech­ten fin­den sich an den bei­den Enden der Stadt: Im Wes­ten in Voh­win­kel-Ost (9,7%, 403 AfD-Stim­men, 19 Stim­men NPD, 7 Stim­men für „die Rech­te“) und -West (10,74% oder 374 AfD-Stim­men, 10 Stim­men für die NPD und 2 für „die Rech­te“), sowie ab dem Loh in Rich­tung Osten. Im Osten Wup­per­tals konn­te die AfD zum Teil dra­ma­ti­sch gute Ergeb­nis­se erzie­len (Loh: 11,61%, bzw. 412 Stim­men für die AfD, 16 Stim­men NPD plus 5 Nazis für „die Rech­te”). Ähn­li­ch waren die AfD-Ergeb­nis­se in Bar­men-Mit­te (326 Stim­men, bzw. 10,51%, 15 NPD-Stim­men plus 7 Stim­men für „die Rech­te“), sowie am Sedans­berg (284 Stim­men oder 10,18% für die AfD, 22 Stim­men für die NPD und 2 „die Rechte“-WählerInnen). Noch übler sieht es in Ober­bar­men und Lang­er­feld-Nord aus. Hier konn­te die AfD 13,65% (oder 323 Stim­men) bzw. 12,49% (oder 522 Stim­men) abgrei­fen. Hin­zu kom­men 21 bzw. 36 Stim­men für die Nazi-Par­tei­en NPD und „die Rech­te“. In bei­den Wahl­be­zir­ken lag die Betei­li­gung an der Wahl deut­li­ch unter 50% (in der Stadt gesamt waren es 62%). Wei­te­re Kom­mu­nal­wahl­be­zir­ke, in denen es eine nied­ri­ge Wahl­be­tei­li­gung gab und die AfD zwei­stel­li­ge Ergeb­nis­se hol­te, waren Wich­ling­hau­sen-Süd und -Nord (10,60%, und 10,76% bzw. 286 und 398 Stim­men, sowie 32 bzw. 23 Stim­men für NPD und „die Rech­te“) sowie Nächs­te­breck und Hecking­hau­sen-Ost (10,35% oder 539 Stim­men für die AfD, 22 Stim­men für die Nazi-Par­tei­en bzw. 11,83%, 420 Stim­men und 26 Stim­men für die Nazi-Par­tei­en). Auch in Hecking­hau­sen-West waren es fast 10% (9,10%). In allen genann­ten Wahl­be­zir­ken lag die LINKE deut­li­ch hin­ter der AfD, beson­ders schlimm ist dies in Nächs­te­breck und Lang­er­feld.

Ins­ge­samt lässt sich fest­stel­len, dass das Auf­tau­chen der AfD deut­li­cher als je zuvor macht, dass sich von den „Wohl­fühl­zo­nen“ eini­ger Elber­fel­der Quar­tie­re nie­mand blen­den las­sen darf – es gibt eben auch ein Leben außer­halb des Ölbergs. Auch die zumeist mit einem Kräf­te­ver­hält­nis von zehn zu eins statt­fin­den­den anti­fa­schis­ti­schen Akti­vi­tä­ten gegen Nazi-Auf­mär­sche und rech­te Kund­ge­bun­gen soll­ten nicht zum Irr­tum ver­lei­ten, sie reprä­sen­tier­ten das Gesamt­kräf­te­ver­hält­nis in der Stadt. Spe­zi­ell in den als „sozia­le Brenn­punk­te“ bezeich­ne­ten Quar­tie­ren haben sich sehr vie­le derer die wäh­len dür­fen, vom Par­la­men­ta­ris­mus voll­stän­dig ver­ab­schie­det. Das Ergeb­nis sind zwar schreck­li­che Wahl­er­geb­nis­se für die AfD, doch bedeu­ten über­pro­por­tio­nal rech­te Wahl­er­geb­nis­se jedoch nicht, dass dort auch tat­säch­li­ch über­pro­por­tio­nal rechts gewählt wür­de. Es lohnt sich ein Bli­ck auf die abso­lu­ten Zah­len der Stim­men: Davon aus­ge­hend, dass rech­te Par­tei­en ihr Kli­en­tel zuver­läs­sig an die Wahl­ur­nen gebracht haben, rela­ti­viert sich das Bild, die rech­ten Par­tei­en wür­den von den so genann­ten „Unter­schich­ten“ häu­fi­ger gewählt als von der „Bür­ger­li­chen Mit­te“. Für Ober­bar­men ergibt ein um die nied­ri­ge Wahl­be­tei­li­gung berei­nig­tes Ergeb­nis bei­spiels­wei­se knapp 10% AfD-Stim­men statt der 13,65%, die das Spit­zen­er­geb­nis in Wup­per­tal dar­stel­len. Umge­kehrt ergä­be sich auf dem glei­chen Weg für ein eher bür­ger­li­ches Vier­tel mit über­duch­schnitt­li­ch hoher Wahl­be­tei­li­gung wie Cro­nen­berg-Süd auch ein berei­nig­ter AfD-Anteil von knapp 9,5%. Gleich­zei­tig räumt das auch mit dem Kli­schee auf, in Vier­teln mit beson­ders hohem Migra­ti­ons­an­teil sei­en Rech­te erfolg­rei­cher.

Und was bedeu­tet das alles?

Im Gespräch mit Bern­hard San­der waren ähn­li­che Ergeb­nis­se auch für den ers­ten Wahl­gang zur fran­zö­si­schen Prä­si­dent­schafts­wahl fest­ge­stellt wor­den. Die oft gehör­te The­se, es sei­en vor allem „sozi­al Schwa­che“, die den Front Natio­nal wäh­len wür­den, erweist sich auch dort als vor­ei­lig, wenn die nied­ri­ge Wahl­be­tei­li­gung in bestimm­ten Gegen­den berück­sich­tigt wird. Es ist eine sehr weit­ge­hen­de poli­ti­sche Absti­nenz der Bevöl­ke­rung, die rech­ten Par­tei­en dort oft hohe Ergeb­nis­se bringt – sie­he Ober­bar­men. Die tat­säch­li­che Ver­an­ke­rung rech­ter Par­tei­en in der Bevöl­ke­rung dif­fe­riert hin­ge­gen weni­ger als vie­le mei­nen; ohne die Erkennt­nis, dass die AfD „in der Mit­te der Gesell­schaft“ eben­so ver­an­kert ist wie an ihren Rän­dern, wer­den sich wir­kungs­vol­le Stra­te­gi­en gegen den Rechts­ruck jedoch kaum ent­wi­ckeln las­sen. Wup­per­tal wur­de auch bei die­ser Wahl wie­der von der SPD „gewon­nen“, und nicht zuletzt die Tat­sa­che, dass die Par­tei alle drei Direkt­kan­di­da­ten „durch­ge­bracht“ hat, wird ihr den Bli­ck dar­auf ver­stel­len, wie dra­ma­ti­sch die­ser Rechts­ruck jen­seits ihrer eige­nen Abschie­be- und Law and Order-Poli­tik auch in Wup­per­tal gewe­sen ist. Das lässt sich am bes­ten an den abso­lu­ten Zah­len der Stimm­ver­lus­te, bzw. -gewin­ne bei der Wahl able­sen. Ins­ge­samt haben die Par­tei­en „rechts der Mit­te“ – also AfD, CDU und FDP – in der Stadt 31.107 Stim­men im Ver­gleich zur letz­ten Wahl gewon­nen; SPD, Grü­ne und Pira­ten ver­lo­ren hin­ge­gen 25.717 Stim­men; mit 8.088 Stim­men weni­ger haben im Übri­gen die Grü­nen mehr Stim­men ver­lo­ren als die SPD (- 7.820; Pira­ten minus 9.809). Auf der ande­ren Sei­te konn­te ledig­li­ch die LINKE mit einem Stim­men­plus von 4.336 gegen den Trend abschnei­den. Umge­rech­net auf das Gesamt­er­geb­nis haben die die Par­tei­en „links“ von der CDU also im Ver­gleich zu 2012 round­a­bout 20% ver­lo­ren. Das ist jede/r Fünf­te.

Damit liegt Wup­per­tal abso­lut im Trend aller in die­sem Jahr statt­ge­fun­de­nen Wahlen. Sowohl inter­na­tio­nal (Nie­der­lan­de, Frank­reich), als auch in Deutsch­land (Saar­land, Schles­wig-Hol­stein, jetzt Nord­rhein-West­fa­len), ver­lie­ren Sozi­al­de­mo­kra­ten und links von Libe­ral-Kon­ser­va­ti­ven ange­sie­del­te Par­tei­en dra­ma­ti­sch. Gleich­zei­tig zeigt sich bei meh­re­ren libe­ral-kon­ser­va­ti­ven Par­tei­en ein Drift zum Auto­ri­ta­ris­mus. Sowohl Macron in Frank­reich als neu­er­dings auch der ÖVP-Jung­star Kurz in Öster­reich pro­pa­gie­ren eine ganz auf ihre Per­son zuge­schnit­te­ne Poli­tik, für die sie die Auf­lö­sung bis­he­ri­ger Par­tei­struk­tu­ren in Kauf neh­men. Zur Mit­te die­ses Wahl­jah­res lässt sich fest­stel­len, dass die Ant­wort der bür­ger­li­chen Klas­se auf die Her­aus­for­de­rung durch Rech­te eine Wie­der­kehr reak­tio­när-auto­kra­ti­scher Poli­tik­kon­zep­te zu sein scheint. In NRW wird das (mög­li­cher­wei­se in abge­mil­de­ter Form), in den nächs­ten fünf Jah­ren zu erle­ben sein. Umso bedau­er­li­cher ist es, dass es für die LINKE zum Ein­zug in den Land­tag nicht reich­te, weil gera­de ein­mal 8.561Stimmen gefehlt haben. Allen auch schwe­ren poli­ti­schen Dif­fe­ren­zen zum Trotz wird ein Gegen­pol zur AfD im Land­tag feh­len. Und die Bedeu­tung eines „par­la­men­ta­ri­schen Arms“, über die wir bei unse­rer Dis­kus­si­on viel mit Bern­hard San­der gespro­chen haben, wird vie­len (auch jenen 1.006 Men­schen, die dem Spaß­fak­tor der PARTEI in Wup­per­tal den Vor­zug gege­ben haben) sicher noch auf­ge­hen. Wäh­rend die zu erwar­ten­de CDU/FDP-Landesregierung noch skru­pel­lo­ser als die alte Abschie­bun­gen (auch nach Afgha­nis­tan) for­cie­ren wird, wird es erst­mals seit sie­ben Jah­ren kei­ne früh­zei­ti­gen Ter­mi­ne zu beab­sich­tig­ten Sam­mel­ab­schie­bun­gen mehr geben. Auch auf par­la­men­ta­ri­sche Anfra­gen wie zum Raci­al Pro­filing an Sil­ves­ter in Köln oder eine kri­ti­sche Betei­li­gung an Unter­su­chungs­aus­schüs­sen wie dem zum NSU wird ver­zich­tet wer­den müs­sen, wäh­rend die rech­te AfD alle die­se Mög­lich­kei­ten ab sofort hat und für Anti-Anti­fa-Arbeit nut­zen wird. (An die­ser Stel­le auch ein Dan­ke an ein­zel­ne Pira­ten im letz­ten Land­tag, die viel­fach hilf­rei­che Arbeit gemacht haben.)

Für die radi­ka­le Lin­ke bedeu­ten die Ergeb­nis­se neben des Alarms wegen des Erfolgs für die AfD vor allem eines: Auch in poli­ti­sier­ten Zei­ten wie in die­sem Jahr (in denen die all­ge­mei­ne Wahl­be­tei­li­gung steigt) gibt es in wei­ten Tei­len der Bevöl­ke­rung eine völ­li­ge Abwen­dung von „offi­zi­el­ler“ Poli­tik, die tat­säch­li­ch in einer schwe­ren Kri­se steckt. Wo Hips­ter und Öko-Bour­geois sich einem Schaum­schlä­ger wie dem für die Grü­nen kan­di­die­ren­den Jörg Heyn­kes zuwen­den, der immer­hin 14.756 Stim­men im Tal hol­te, blei­ben in den „sozia­len Brenn­punk­ten“ nach wie vor die meis­ten bei einer Wahl ein­fach zuhau­se – die einen, weil sie man­gels Pass nicht wäh­len dür­fen, die ande­ren weil sie offen­bar defi­ni­tiv nichts mehr erwar­ten. Die radi­ka­le Lin­ke weiß seit lan­gem, dass ihre Poli­tik dort, außer­halb der eige­nen Wohl­fühl-Oase prä­sent sein müss­te, will sie den Rech­ten nicht mit­tel­fris­tig das Feld über­las­sen. In Betrach­tung des üblen Rechts­rucks in der Stadt und des Erfolgs der AfD wäre jetzt höchs­te Zeit, das lan­ge Bekann­te umzu­set­zen. Ange­sichts der eige­nen Ver­fas­sung wäre es ver­mes­sen zu glau­ben, die radi­ka­le Lin­ke könn­te zum Bei­spiel in Ober­bar­men oder in Lang­er­feld erfolg­reich neben­bei inter­ve­nie­ren. In bei­den Quar­tie­ren muss schon jetzt von einer schlech­ten Aus­gangs­po­si­ti­on gespro­chen wer­den. Hier müss­te zunächst ein­mal ein viel inten­si­ve­r­er Kon­takt zu den dort leben­den Migran­ten und Migran­tin­nen auf­ge­baut wer­den, um die dro­hen­de Hege­mo­nie rech­ter Dis­kur­se zu bre­chen. Doch neben­an, am Osters­baum, ist lan­ge nichts ent­schie­den: Das Vier­tel ist pola­ri­siert und des­il­lu­sio­niert. Eine Kon­se­quenz für die radi­ka­le Lin­ke aus den Wahl­er­geb­nis­sen müss­te sein, den Kampf um den „ande­ren Berg” jetzt aktiv zu füh­ren und zu inten­si­vie­ren.

Autoritäre Entwicklungen II

Ver­an­stal­tung­be­richt Teil 2 – Der Para­gra­ph 114 (Teil 1)

Wann wird es für den Staat oppor­tun, sei­ne repres­si­ven Werk­zeu­ge anzu­wen­den, und war­um bestimmt Sicher­heits­po­li­tik eigent­li­ch die poli­ti­sche Tages­ord­nung? Und wie müss­te unse­re Reak­ti­on ange­sichts des­sen aus­fal­len? Am Bei­spiel des neu­en § 114, der so genann­te „tät­li­che Angrif­fe gegen Voll­stre­ckungs­be­am­te und ihnen gleich­ge­stell­te Per­so­nen” in Zukunft mit min­des­tens drei Mona­ten Knast sank­tio­nie­ren soll, las­sen sich eini­ge grund­sätz­li­che Über­le­gun­gen anstel­len; und eine Betrach­tung erfol­gen­der Reak­tio­nen von lin­ker Sei­te auf das Geset­zes­vor­ha­ben ver­weist auf eini­ge eige­ne Irr­tü­mer und einer damit ein­her­ge­hen­den Unfä­hig­keit ange­mes­sen zu reagie­ren. Die­se Reak­tio­nen redu­zie­ren die Aus­wir­kun­gen des neu­en Geset­zes meist auf ein Demons­tra­ti­ons­ge­sche­hen. Wer jedoch das staat­li­che Motiv für die­ses mit dem alten Wider­stands­pa­ra­gra­phen 113 sym­bio­ti­sch ver­knüpf­te neue Gesetz ver­ste­hen will (das auch in der Rechts­wis­sen­schaft höchst umstrit­ten ist), muss sich mit der Insti­tu­ti­on der Poli­zei und der ihr in der Gesell­schaft zuge­dach­ten Auf­ga­be beschäf­ti­gen (das Argu­ment des Schut­zes von Feu­er­wehr und Ret­tungs­diens­ten kann getrost bei­sei­te gelas­sen wer­den; gemeint ist die Poli­zei.)

Wenig erstaun­li­ch ist, dass es die weit­ver­brei­te­te Mei­nung gibt, Rol­le und Auf­ga­be der Poli­zei sei­en eigent­li­ch klar. Denn Lob­by­ver­tre­ter der Poli­zei und Medi­en arbei­ten kräf­tig an einem ein­fa­chen Bild: Auf­ga­be der Poli­zei ist es, Ver­bre­chen auf­zu­klä­ren, zu ver­fol­gen und mög­lichst zu ver­hin­dern. Die Poli­zei sei daher eine Insti­tu­ti­on für die „Sicher­heit” ein­zel­ner in der Gesell­schaft. Dem­entspre­chend lau­fen auch die öffent­li­chen Debat­ten um zu wenig Per­so­nal, zu alte Aus­rüs­tung und zu wenig Befug­nis­se ab. Refe­renz sind Ein­zel­fäl­le, beson­ders empö­rens­wer­te Fäl­le von kri­mi­nel­len Hand­lun­gen und indi­vi­du­el­le Bedro­hungs­sze­na­ri­en. Sug­ge­riert wird damit, „Poli­zei“ käme jedem zugu­te. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Ent­ste­hungs­ge­schich­te der Insti­tu­ti­on „Poli­zei” zeigt, dass es, als es – bei­spiels­wei­se in Eng­land oder in eini­gen Städ­ten der USA – im 19. Jahr­hun­dert zur Grün­dung einer zwi­schen Mili­tär und selbst­or­ga­ni­sier­tem Schutz ange­sie­del­ten Insti­tu­ti­on „Poli­zei“ kam (vgl. dazu hier) gar nicht um eine Bekämp­fung von Ver­bre­chen ging. Die Not­wen­dig­keit zur Grün­dung einer sol­chen Insti­tu­ti­on ergab sich aus einer rasan­ten Ver­än­de­rung der Städ­te zu Beginn der Indus­tria­lie­rung; anwach­sen­de Bevöl­ke­run­gen, die Umstruk­tu­rie­rung der Arbeit zur Lohn­ar­beit und das Ent­ste­hen einer neu­en Klas­sen­ge­sell­schaft, die ein zuvor bestim­men­des, nach­feu­da­les Stän­de- und Zünf­te­sys­tem ablös­te, führ­ten in den gro­ßen Städ­ten zu zuneh­men­den Inter­es­sen­kon­flik­ten ein­zel­ner Bevöl­ke­rungs­grup­pen mit ande­ren: Unter­neh­mens­be­sit­zern und Arbei­tern, Arbei­tern und Tage­löh­nern aber auch von Alt­ein­ge­ses­se­nen mit neu in die Stadt drän­gen­den Ein­wan­de­r­er­grup­pen.

Die zuneh­men­den Zusam­men­rot­tun­gen und Streiks­lie­ßen sich mit bis dahin agie­ren­den neben­be­ruf­li­chen, durch Land- oder Fir­men­be­sit­zer zusam­men­ge­stell­te Tru­pen oder Frei­wil­li­ge, die in einem meist rotie­ren­den Sys­tem eine „Wäch­ter­funk­ti­on” aus­ge­übt hat­ten, nicht mehr unter Kon­trol­le brin­gen; zumal nicht sicher war, ob sie in einem Kon­flikt nicht sel­ber dar­über ent­schie­den, ob sie flüch­te­ten oder gar die Sei­te wech­sel­ten. Die neu geschaf­fe­ne Insti­tu­ti­on Poli­zei soll­te die (stadt-) gesell­schaft­li­chen „Neben­be­ruf­ler“ des­halb durch haupt­be­ruf­li­che Kräf­ten erset­zen. Denn in Fäl­len, in denen die Kon­trol­le zu ent­glei­ten droh­te, wur­de zur Bekämp­fung von Streiks und Auf­stän­den zuvor im Not­fall Mili­tär ein­ge­setzt, was oft zu gewalt­tä­ti­gen Ein­sät­zen gegen die Men­schen­men­gen führ­te. Unter Strei­ken­den kam es zu vom Mili­tär getö­te­ten Arbei­tern, was nicht sel­ten eine noch grö­ße­re Ent­schlos­sen­heit der Strei­ken­den beim nächs­ten Mal aus­lös­te. Die Kon­trol­le der neu­en Stadt­ge­sell­schaf­ten und die Siche­rung der Klas­sen­ge­gen­sät­ze war lücken­haft. Die „Poli­zei” soll­te die­se Lücke fül­len und zu einem effek­ti­ven, in der Regel aber weni­ger leta­len Mit­tel wer­den, gesell­schaft­li­che Kon­flik­te ein­zu­he­gen und mög­lichst schon vor dem Ent­ste­hen zu erken­nen. Von Anfang an wur­de die Poli­zei, anders als das beim kaser­nier­ten Mili­tär mög­li­ch war, des­halb als eine im All­tag der Men­schen ver­an­ker­te Insti­tu­ti­on kon­zi­piert. Die Über­tra­gung von Ver­bre­chens­be­kämp­fung von einer all­ge­mei­nen „Awa­ren­ess” auf die neue Insti­tu­ti­on dien­te dazu als Vehi­kel. Wo zuvor wort­wört­li­ch ein „Hal­tet den Dieb” zum kol­lek­ti­ven Ver­su­ch führ­te, eine Tat zu ver­hin­dern und bedroh­tes Eigen­tum zu schüt­zen, wen­de­ten sich von Dieb­stahl Betrof­fe­ne fort­an an die im Vier­tel prä­sen­ten Poli­zis­ten. Sie wur­den nach und nach zu den umgangs­sprach­li­ch noch lan­ge prä­sen­ten „Schutz­män­nern“, die vor Ort respek­tiert sein soll­ten und durch ihre Kennt­nis­se und Kon­tak­te früh­zei­tig von sich anbah­nen­den gesell­schaft­li­chen Kon­flik­ten zu erfah­ren.

Die Poli­zei befasst sich “mit Men­schen­men­gen, Wohn­vier­teln, anvi­sier­ten Tei­len der Bevöl­ke­rung – alles kol­lek­ti­ve Ein­hei­ten. Sie mögen das Gesetz anwen­den, um dies zu tun, aber ihre all­ge­mei­nen Richt­li­ni­en erhal­ten sie in der Form von Vor­ga­ben ihrer Vor­ge­setz­ten oder aus ihrer Berufs­er­fah­rung. Die Direk­ti­ven haben regel­mä­ßig offen kol­lek­ti­ven Cha­rak­ter – etwa die Kon­trol­le über ein wider­spens­ti­ges Vier­tel zu erlan­gen.”
(aus „Orig­ins of the poli­ce”)

Die Insti­tu­ti­on „Poli­zei” ist seit ihrer „Erfin­dung” als Ord­nungs­fak­tor zur Ein­he­gung von Men­schen­men­gen im öffent­li­chen Raum inten­diert. Um die­ser Auf­ga­be gerecht zu wer­den, soll sie die­je­ni­gen die sich dort auf­hal­ten, kon­trol­lie­ren. Sie wur­de dafür mit der Defi­ni­ti­ons­macht aus­ge­stat­tet, dar­über zu befin­den, was die „Ord­nung” öffent­li­cher Räu­me bedroht oder stört und was eben nicht. So auf­ge­fasst, sind vie­le Ent­schei­dun­gen heu­ti­ger Ein­satz­lei­tun­gen oft weni­ger ideo­lo­gi­sch als sys­tem­im­ma­nent zu ver­ste­hen. Eine ange­mel­de­te Demo ist nach Poli­zei-Defi­ni­ti­on bei­spiels­wei­se zunächst kei­ne Stö­rung der Ord­nung im öffent­li­chen Raum, zu der not­ge­drun­gen auch das Recht zählt, in einem eng von der Poli­zei bestimm­ten Rah­men demons­trie­ren zu dür­fen. Da eine Demo für die­sen Rah­men jedoch stets eine Gefähr­dung dar­stellt, wird sie mit gro­ßem Ein­satz beob­ach­tet und beglei­tet. Der poli­zei­li­che Rah­men wird bei „Class­less Kul­la“ tref­fend so beschrie­ben: „Die Poli­zei legt fest, wer wann und wo demons­triert, wel­che Auf­la­gen vor­her laut vor­ge­le­sen wer­den müs­sen, wann sich die Demo wie schnell bewegt und wann sie ste­hen­bleibt, wie die Betei­lig­ten geklei­det sind, wie groß ihre Trans­pa­ren­te sind, und in vie­len Fäl­len auch, wann und wo die Demo endet.“ Gegen­de­mons­tra­tio­nen, zum Bei­spiel gegen einen ange­mel­de­te Nazi-Auf­mar­sch, ent­spre­chen hin­ge­gen per se nicht der poli­zei­li­chen Defi­ni­ti­on eines „geord­ne­ten” Ablaufs. Sie stö­ren und bedro­hen noch wei­ter die von der Poli­zei gesetz­ten Rah­men­be­din­gun­gen. Die­se, All­tag und Äuße­run­gen eines Jeden (mit-) bestim­men­de Rol­le der Poli­zei wur­de und wird natür­li­ch nicht von vorn­her­ein akzep­tiert. Um eine Insti­tu­ti­on zu imple­men­tie­ren, die defi­ni­to­ri­sch wie durch das ihr zuge­dach­te „Gewalt­mo­no­pol” ganz fak­ti­sch jeder­zeit bestim­men kann, wo öffent­li­cher Raum beginnt, wo er auf­hört und wie sich belie­bi­ge Situa­tio­nen in ihm zuzu­tra­gen haben, bedarf es neben einer ent­spre­chen­den Gesetz­ge­bung einer wei­te­ren, psy­cho-sozia­len Vor­aus­set­zung: Sie benö­tigt beson­de­res Anse­hen und eine her­aus­ge­ho­be­ne Stel­lung gegen­über den zu Kon­trol­lie­ren­den. Sie benö­tigt den Respekt der Kon­trol­lier­ten und im Kon­flikt­fall auch die Unter­stüt­zung der ande­ren im öffent­li­chen Raum Anwe­sen­den.

In frü­hen Zei­ten, etwa zum Ende des vor­letz­ten, noch von feu­da­len Staats­struk­tu­ren gepräg­ten Jahr­hun­derts, gab es den erfor­der­li­chen Respekt qua Ver­fü­gung und mit­tels auto­ri­tä­ren Auf­tre­tens. Poli­zis­ten waren die Ver­tre­ter des gott­ge­ge­be­nen Herr­schers und als sol­che selbst­ver­ständ­li­ch mit dem Defi­ni­ti­ons­mo­no­pol aus­ge­stat­tet. (In den USA sah es anders aus. Hier erfolg­te u.a. ein lan­ges Rin­gen um das Gewalt­mo­no­pol, das bis heu­te andau­ert.) Die Lage der Poli­zei in Euro­pa änder­te sich mit der vor­an­schrei­ten­den Demo­kra­ti­sie­rung und Poli­ti­sie­rung der Gesell­schaft. Der „natür­li­che Respekt“ vor den die Mon­ar­chie reprä­sen­tie­ren­den Poli­zis­ten schwand. Die Poli­zei war zuneh­mend auf eine ande­re ide­el­le Absi­che­rung ange­wie­sen, woll­te sie ihre Rol­le in den Vier­teln und bei der Kon­trol­le von Men­schen­men­gen wei­ter erfül­len ohne dabei zu sehr bedrängt zu wer­den. Zumal es bis zum Ende des letz­ten Jahr­hun­derts zwi­schen Demons­trie­ren­den und Poli­zis­ten einen viel gerin­ge­ren Unter­schied in der Aus­rüs­tung gab als heu­te. An die Stel­le des die Mon­ar­chie reprä­sen­tie­ren­den „Schutz­man­nes“ trat das Bild des „Freund und Hel­fers“, das u.a. durch Hein­rich Himm­ler als Innen­mi­nis­ter des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutsch­land geprägt wur­de und bei Poli­zis­tIn­nen ein bis heu­te belieb­ter Euphe­mis­mus ist. Der „ein­fa­che“, aus der Bevöl­ke­rung kom­men­de Poli­zist, der auf­op­fe­rungs­voll den Schutz vor den Gefähr­dun­gen des Zusam­men­le­bens gewähr­leis­tet, rück­te in den Fokus der (Selbst-) Dar­stel­lung. Die Sti­li­sie­rung der bei der Ent­füh­rung Hanns Mar­tin Schley­ers getö­te­ten Sicher­heits­kräf­te als „unschul­di­ge Opfer“ stellt einen Höhe­punkt die­ser gewünsch­ten Sicht­wei­se auf Poli­zis­ten dar. Mehr als Schley­ers Ent­füh­rung soll­te ihr Tod einen Angriff RAF auf die Gesamt­ge­sell­schaft bedeu­ten – sie hat­ten schließ­li­ch nur „ihre Arbeit gemacht”. Durch die­se Dar­stel­lung der Poli­zei als „aus dem Volk kom­mend” gelang es, sie als Teil der Gesell­schaft im Bewusst­sein zu ver­an­kern, wer Poli­zis­ten angriff griff die Gesell­schaft an. Angrif­fe auf Poli­zis­ten sol­len des­halb dop­pelt zäh­len: „Es wird ja nicht nur der Poli­zist als Men­sch ange­grif­fen; es wird ja der Staat ange­grif­fen.” (CDU-Innen­po­li­ti­ker Armin Schus­ter im DLF, Febru­ar 2017)

Anschlie­ßend wur­den die Unter­schie­de in Bewaff­nung und Aus­rüs­tung dann deut­li­ch ver­grö­ßert; inzwi­schen müs­sen Men­schen­men­gen auf jede Art so genann­ter „pas­si­ver Bewaff­nung“ wie Hel­me oder Gesichts­tü­cher ver­zich­ten, wäh­rend aus den Poli­zis­ten anony­me, gepan­zer­te „Riot-Cops“ wur­den. Damit kehr­ten jedoch auch die bereits von den Mili­tär­ein­sät­zen frü­he­rer Zei­ten bekann­ten Akzep­tanz­pro­ble­me zurück. Eine offen­sicht­li­che Unter­le­gen­heit führt bei Beherrsch­ten zwangs­läu­fig zu einem Man­gel an Respekt; er wird durch die alte Angst ersetzt. Auch wenn das bei der Kon­trol­le von Men­schen­men­gen hin­ge­nom­men wird, bei der im All­tag ver­an­ker­ten Poli­zei stellt das ein gro­ßes Pro­blem dar. Angst führt dort zu einer Dis­tan­zie­rung von der Poli­zei, es besteht die Gefahr, dass sich die Men­schen der Kon­trol­le durch die Poli­zis­tIn­nen ent­zie­hen. Für die eige­ne Über­hö­hung ist die in den Vier­teln agie­ren­de Poli­zei daher heu­te ver­mehrt auf die Unter­stüt­zung durch die Medi­en ange­wie­sen. Das erle­di­gen unter ande­rem Pres­se­ar­ti­kel, vor allem die täg­li­chen klei­nen Mel­dun­gen der Lokal­pres­se, die stän­dig die Rol­le der Poli­zei als Kor­rek­tur­fak­tor bei bedroh­li­chen Vor­fäl­len her­aus­strei­chen. Fast immer wört­li­ch aus Poli­zei­be­rich­ten abge­schrie­ben, stel­len sie grund­sätz­li­ch die Sicht der Poli­zei auf belie­bi­ge „Vor­fäl­le” dar. Eige­ne Recher­che zum The­ma­ti­sier­ten wird zumeist nicht geleis­tet. In Wup­per­tal ragt hier die Über­nah­me der Poli­zei­sicht beim ver­such­ten Mord von Nazis an einem Anti­fa­schis­ten 2015 am AZ als Nega­tiv­bei­spiel her­aus, aber auch die Emp­feh­lung des WDR-Sen­ders „1Li­ve“ anläss­li­ch der Pro­tes­te gegen den AfD-Par­tei­tag in Köln, sich der Ein­fach­heit hal­ber über den Twit­ter-Kanal der Köl­ner Poli­zei über das Gesche­hen zu infor­mie­ren, zeigt, wer die Medi­en­ar­beit macht, wenn es um Kon­flikt­si­tua­tio­nen geht. Doch selbst wenn ein­mal nach­re­cher­chiert wird, wird die Sicht­wei­se der Poli­zei oft im Umkehr­schluss bestä­tigt. Wenn in einem Arti­kel von “unver­hält­nis­mä­ßi­ger Poli­zei­ge­walt” die Rede ist, bedeu­tet das, dass es auch eine ver­hält­nis­smä­ßi­ge­re gibt. Der Poli­zei wird damit neben dem staat­li­chen Gewalt- auch das dis­kur­si­ve Mono­pol dazu über­las­sen, war­um etwas, wann, wo und durch wen geschah – oder was eben nicht (wenn es in ihren Berich­ten gar nicht vor­kommt). Spra­che und Ein­schät­zun­gen der Poli­zei erhal­ten so einen als Jour­na­lis­mus getarn­ten Kanal zur loka­len Bevöl­ke­rung.

Die Poli­zei hat dies ver­hin­dert, jenes auf­ge­deckt, sie ver­mel­det, beklagt, warnt. (…) Mel­dun­gen bestehen aus dem, was die Poli­zei sagt – ihre Spra­che, ihre Ein­schät­zung, ihr Selbst­ver­ständ­nis und vor allem ihre Feind­be­stim­mung prä­gen die öffent­li­che Bericht­erstat­tung (…)”. Die Poli­zei defi­niert, „was ‚mili­tant’ heißt, wann etwas ‚ver­ein­zelt’ geschah, wer über­haupt Agie­ren­de und Reagie­ren­de sind, wer zum Han­deln gezwun­gen war und (…) was sich ‚not­wen­dig mach­te’ (…)”. (aus „All Cops are Staats­ge­walt”)

Den Rest besorgt eine Unter­hal­tungs­ma­schine, in der jeden Abend wohl­wol­len­de, nach­denk­li­che, höchst mensch­li­che und idea­lis­ti­sche Kom­mis­sa­re an der Sei­te der Bedroh­ten, Bedräng­ten und Ernied­rig­ten die eige­ne Ehe und Gesund­heit ris­kie­rend über die Bild­schir­me in die Wohn­zim­mern flim­mern. Das alles führt zu unvor­stell­bar gran­dio­sen Wer­ten, wenn die Bevöl­ke­rung nach ihrem Ver­trau­en in Insti­tu­tio­nen gefragt wird. Die Poli­zei ran­giert bis heu­te unan­ge­foch­ten auf dem ers­ten Platz, vor der Jus­tiz (was auch ein schlech­ter Witz ist…). 80% schen­ken der Poli­zei ihr Ver­trau­en. Und obwohl das ein Indiz dafür ist, dass die Ver­an­ke­rung der Ord­nungs­macht in der Gesell­schaft kaum gerin­ger scheint als zu Kai­sers Zei­ten, spricht trotz­dem viel dafür, dass der Poli­zei zuneh­mend unwohl in ihrer Haut gewor­den ist. Die bei der Ein­füh­rung des neu­en Para­gra­phen 114 viel zitier­ten Sta­tis­ti­ken, die einen Anstieg angeb­li­cher Gewalt­de­lik­te gegen Poli­zis­tIn­nen bele­gen sol­len, sagen näm­li­ch zwei­er­lei aus. Neben einer in Poli­zei­krei­sen viru­len­ten Ten­denz zur Kri­mi­na­li­sie­rung des Gegen­über gibt es wohl tat­säch­li­ch eine sub­jek­tiv emp­fun­de­ne Bedro­hungs­la­ge, die sich in den auf Aus­sa­gen von Poli­zis­tIn­nen basie­ren­den Ein­satz­pro­to­kol­len abbil­det (es gibt kei­ne objek­ti­ve Erfas­sung aus­ge­üb­ter Gewalt gegen Poli­zis­tIn­nen, es gibt nur die von ihnen selbst zu Pro­to­koll gege­be­nen „Vor­fäl­le“). Mit Recht wird kri­ti­siert, deren sub­jek­ti­ven Emp­fin­dun­gen zur sta­tis­ti­schen Grund­la­ge eines Geset­zes gemacht zu haben, dass sich jedoch in der Sta­tis­tik eine offen­bar zuneh­men­de Opfer­per­spek­ti­ve wider­spie­gelt, ist ein­deu­tig. Wie fal­sch die so erstell­ten Sta­tis­ti­ken aller­dings sein müs­sen, lässt sich an ande­ren, vor­han­de­nen objek­ti­ven Zah­len able­sen: Bei­spiels­wei­se an der Dis­kre­panz zwi­schen „voll­ende­ter“ und „ver­such­ter schwe­rer Kör­per­ver­let­zung“. Weist die Kri­mi­na­li­täts­sta­tis­tik auf ein­hun­dert Fäl­le von „schwe­rer Kör­per­ver­let­zung“ 16 Taten aus, bei denen es ledig­li­ch bei einem Ver­su­ch dazu blieb, ver­schiebt sich das Ver­hält­nis der „ver­such­ten schwe­ren Kör­per­ver­let­zun­gen“ zu den „voll­ende­ten“ bei Poli­zis­tIn­nen zu unglaub­li­chen 125 zu 100. Von Poli­zis­tIn­nen wird also ein Viel­fa­ches an „ver­such­ten schwe­ren Kör­per­ver­let­zun­gen“ ange­zeigt als im Leben all­ge­mein vor­kom­men. (Quel­le: beck-com­mu­ni­ty)

Wenn Fäl­le von durch Dienst­mü­dig­keit oder Corps­geist beding­ten Krank­schrei­bun­gen und Schmer­zen in Abzug gebracht wer­den, ist die ver­blei­ben­de Dis­kre­panz nicht allein durch Gegen­an­zei­gen oder Kri­mi­na­li­sie­rungs­ver­su­che durch die Poli­zei erklär­bar. Ein nicht unwe­sent­li­cher Teil muss auf dem sub­jek­ti­ven Gefühl basie­ren, tat­säch­li­ch bedroht oder ange­grif­fen zu wer­den. Doch woher kommt das Gefühl der Poli­zei, sich auf so unsi­che­rem Ter­rain zu bewe­gen? Es gibt dafür auch objek­ti­ve Umstän­de. Bei­spiels­wei­se ist die Poli­zei zwar auf ihrem urei­ge­nen Ter­rain, der Kon­trol­le von Men­schen­men­gen und Auf­stands­be­kämp­fung so gut aus­ge­rüs­tet wie nie zuvor, im für das sub­jek­ti­ve Gefühl ent­schei­den­den Poli­zei-All­tag ist sie jedoch oft mate­ri­ell im Hin­ter­tref­fen. Wo Pro­to­kol­le noch auf einem „Win­dows 97“-Rechner ver­fasst wer­den müs­sen, agiert das Gegen­über mitt­ler­wei­le mit schnel­len und mobi­len Devices und Ver­schlüs­se­lungs­tech­no­lo­gi­en. Medun­gen zu vom schma­lem Gehalt selbst gekauf­ten Schutz­wes­ten und wegen ver­sa­gen­der Funk­kom­mu­ni­ka­ti­on bei Ein­sät­zen bevor­zug­ten Mobil­te­le­fo­nen tra­gen sicher auch zum Gefühl der Unter­le­gen­heit und Ver­un­si­che­rung bei. Dort, wo Poli­zis­tIn­nen den für die unge­fähr­de­te Kon­trol­le eines Vier­tels benö­tig­ten Respekt der Kon­trol­lier­ten erfah­ren müss­ten, erle­ben sie so teil­wei­se das Gegen­teil. Zum ande­ren ver­sagt das nach Aner­ken­nung hei­schen­de Bild vom in der Mit­te der Gesell­schaft befind­li­chen Poli­zis­ten, wenn es auf Men­schen trifft, die sich ihrer­seits gar nicht als Teil der Gesell­schaft erfah­ren kön­nen. Die immer mehr mani­fes­tier­te sozia­le Spal­tung der Gesamt­ge­sell­schaft führt bei jenen 20%, für die die Poli­zei nicht (mehr) eine Insti­tu­ti­on ist, der Ver­trau­en geschenkt wird, zu einem ver­än­der­tem Ver­hal­ten. Men­schen, die sich nicht mehr sor­gen, bei „Auf­müp­fig­keit“ exklu­diert zu wer­den, weil sie auf Inklu­si­on ohne­hin kei­ne Aus­sicht haben, kün­di­gen den seit der „Erfin­dung“ der „Schutz­män­ner“ geschlos­se­nen Pakt auf. Sie emp­fin­den deren Arbeit nicht län­ger als „Schutz“. Als „Frech­heit“ emp­fun­de­ne Reak­tio­nen im All­tag neh­men zu, Wider­sprü­che häu­fen sich und Anord­nun­gen wird nicht unbe­dingt umge­hend und wider­spruchs­los Fol­ge geleis­tet. „Es gibt zu vie­le Mit­bür­ger, die den Men­schen in Uni­form pro­vo­zie­ren und stän­dig her­aus­fin­den wol­len, wer der Stär­ke­re ist.” (Gewerk­schaft der Poli­zei im März 2017) Sol­ch „auf­säs­si­ges“ Ver­hal­ten eines Gegen­über ist für das Ver­un­si­che­rungs­ge­fühl von Poli­zis­tIn­nen ent­schei­den­der als die – ohne­hin zurück­ge­hen­de – rea­le Gefahr, auf die Fres­se zu krie­gen. Wie groß der Frust über ihren Poli­zei­all­tag bei Poli­zis­tIn­nen ist, ist bei jeder lin­ken Demo zu erle­ben; also sobald die Poli­zei auf jenes Spiel­feld gelangt, auf dem sie den Vor­teil über­le­ge­ner Aus­rüs­tung hat.

Der Druck, den Lob­by­ver­tre­ter der Poli­zei, wie der lan­ge Zeit unaus­weich­li­che Rai­ner Wendt, gemacht haben, ein Gesetz wie den § 114 ein­zu­füh­ren, ist des­halb vor allem auch als Hand­rei­chung für eine im Dienst zuneh­mend frus­trier­te Poli­zei zu ver­ste­hen. Die durch den neu­en § 114 von der Jus­tiz auf das Hand­lungs­feld der Poli­zei ver­la­ger­te Macht, ein „auf­säs­si­ges“ Gegen­über zukünf­tig qua Anzei­ge wegen eines ver­meint­li­chen „tät­li­chen Angriffs“ mit drei Mona­ten Gefäng­nis zu „bestra­fen“, ent­fal­tet ihre Wir­kung vor allem im All­tags­ge­schäft, wo sie die Kräf­te­ver­hält­nis­se zwi­schen Kon­trol­lie­ren­den und Kon­trol­lier­ten und das sub­jek­ti­ve Über­le­gen­heits­ge­fühl von Poli­zis­tIn­nen wie­der her­stel­len soll. Dass die Poli­tik dem, aller juris­ti­schen Vor­be­hal­te gegen das Gesetz zum Trotz, nach­kom­men wird, spricht für eine auch poli­ti­sche Ver­un­si­che­rung. Die Tat­sa­che revol­tie­ren­der reak­tio­nä­rer Bevöl­ke­rungs­schich­ten in Kom­bi­na­ti­on mit einer im All­tag frus­trier­ten Poli­zei, die in wei­ten Tei­len ohne­hin eine berufs­be­ding­te Nähe zu den reak­tio­nä­ren Pro­tes­ten auf­weist, erscheint Herr­schen­den mit Recht gefähr­li­ch. Kön­nen sie sich nicht mehr auf die Loya­li­tät der haupt­be­ruf­li­chen „Wäch­ter“ ver­las­sen, gerät die Grund­la­ge ihrer Herr­schaft in Gefahr – heu­te wie zu Zei­ten, in denen die Poli­zei als Insti­tu­ti­on „erfun­den“ wur­de. Wie sowas aus­se­hen kann, konn­te nicht nur in Sach­sen inzwi­schen mehr­fach beob­ach­tet wer­den: Die Poli­zei kommt ihrem Auf­trag zum Schutz von Poli­ti­kern oder zur Auf­lö­sung von rech­ten Mobs ein­fach nicht län­ger nach, was frei­li­ch immer ohne Kon­se­quen­zen bleibt. Hier­in fin­det sich die eigent­li­che Bedeu­tung des Wor­tes „Poli­zei­staat“, das zumeist auf die Bedeu­tung aus­ge­üb­ter Poli­zei­ge­walt redu­ziert wird. „Poli­zei­staat“ bedeu­tet über ver­sprüh­tes Pfef­fer­spray hin­aus vor allem, gegen­über „Auf­trag­ge­bern“ in der effek­ti­ven Macht­po­si­ti­on zu sein. Denn wäh­rend die „Auf­trag­ge­ber“, also die Innen­mi­nis­ter als Dienst­her­ren, alle paar Jah­re bei Wahlen um ihre Posi­ti­on fürch­ten müs­sen – also von der durch die Poli­zei zu gewähr­leis­ten­den „Auf­recht­erhal­tung der Ord­nung“ abhän­gig sind – sind die ört­li­chen Poli­zei­prä­si­den­tIn­nen und Poli­zis­tIn­nen beam­tet und wer­den so auch den nächs­ten Innen­mi­nis­ter im Job über­le­ben. Die Poli­tik ist der Poli­zei im Ernst­fall aus­ge­lie­fert und kann sich deren For­de­run­gen kaum ent­zie­hen.

Wenn eine Poli­zei­prä­si­den­tin wie die in Wup­per­tal täti­ge Bir­git­ta Rader­ma­cher im Rechts­aus­schuss des Bun­des­ta­ges zur Ein­füh­rung des § 114 for­dert, in Zukunft das Foto­gra­fie­ren und Fil­men von Poli­zei­ein­sät­zen zu ver­bie­ten (womit Betrof­fe­nen auch die letz­te Beweis­mög­lich­keit für nicht statt­ge­fun­de­ne „tät­li­che Angrif­fe“ genom­men wür­de, wäh­rend die Poli­zei gleich­zei­tig mit „Body­cams“ ihre jewei­li­ge Sicht fil­mi­sch nach Belie­ben doku­men­tie­ren kann) dann muss davon aus­ge­gan­gen wer­den, dass die Poli­tik die­se For­de­rung über kurz oder lang auch umset­zen wird. Die­se, auf den real exis­tie­ren­den „Poli­zei­staat“ ver­wei­sen­de poli­ti­sche Ver­un­si­che­rung steht in kras­sem Gegen­satz zu einem bestän­dig pro­pa­gier­ten Glau­ben an den „Rechts­staat“, der aus uner­find­li­chen Grün­den auch in der Lin­ken tief ver­an­kert ist. Empör­te Ver­wei­se auf das Grund­ge­setz bei der nächs­ten Umset­zung poli­zei­li­cher For­de­run­gen und hilf­lo­se Pres­se­er­klä­run­gen nach der nächs­ten gewalt­sa­men Auf­lö­sung eines Pro­tes­tes zeu­gen davon, sich über die Situa­ti­on und die Ver­fasst­heit der Gesell­schaft unklar zu sein. Das ist auch zu beob­ach­ten, wenn unter Ver­weis auf „isla­mis­ti­schen Ter­ror“ und auf rech­te Pro­pa­gan­da neue gesetz­li­che Vor­ha­ben dis­ku­tiert und umge­setzt wer­den, die fun­da­men­tal in jenen ima­gi­nier­ten „Rechts­staat“ ein­grei­fen. Die Ein­füh­rung von „Zen­sur­be­hör­den“ in sozia­len Medi­en, oder die Dis­kus­si­on über Fuß­fes­seln für an kei­ner Stel­le defi­nier­te „Gefährder“-Gruppen sind nur zwei Bei­spie­le. Vor allem die geplan­ten Fuß­fes­seln für „Gefähr­der“ sind ein gutes Bei­spiel für die wei­ter aus­grei­fen­de Ver­la­ge­rung poli­zei­li­cher Defi­ni­ti­ons­macht in einen nun auch „prä­ven­ti­ven“ Bereich. In die­sem wird es der Poli­zei künf­tig mög­li­ch sein, ihre Funk­ti­on unter voll­stän­di­gem Ver­zicht auf bestehen­de Geset­ze aus­zu­üben, denn ein „Gefähr­der“ hat noch gegen kein Gesetz ver­sto­ßen. Je nach „Lage“, wie die Poli­zei es nennt, könn­te er oder sie es jedoch viel­leicht in Zukunft tun. Von einer, den inzwi­schen sech­zehn­jäh­ri­gen „Krieg gegen den Ter­ror“ beglei­ten­den Gehirn­wä­sche mit stän­di­gen Bedro­hungs­sze­na­ri­en über­rum­pelt, bleibt das lin­ke Inter­es­se an sol­chen Geset­zes­vor­ha­ben eher beschei­den. Denn oft wird nur wahr­ge­nom­men, was für uns selbst bedroh­li­ch ist. Dass das meis­te, was zur Zeit dis­ku­tiert wird, uns nicht trifft, liegt trau­ri­ger­wei­se jedoch nur dar­an, zur Zeit nicht wirk­li­ch als „Gefähr­der“ wahr­ge­nom­men zu wer­den. Das gilt auch für den § 114, trotz sei­ner end­gül­ti­gen Ver­ab­schie­dung im Bun­des­tag am 27. April, also noch „recht­zei­tig“ vor den Pro­tes­ten zum G20-Gip­fel in Ham­burg.

Die Stoß­rich­tung des neu­en Geset­zes zielt, wie bereits geschil­dert, nicht auf die Ver­hin­de­rung einer unmit­tel­bar bevor­ste­hen­den Revo­lu­ti­on von links, son­dern auf die Wie­der­er­lan­gung poli­zei­li­cher Auto­ri­tät in den Kie­zen und Vier­teln. Gleich­wohl wer­den sie selbst­ver­ständ­li­ch auch gegen anti­fa­schis­ti­sche Demons­tran­tio­nen und lin­ke Pro­tes­te zur Anwen­dung gebracht wer­den. Die wich­tigs­te Fol­ge für das eige­ne Han­deln im Hand­ge­men­ge, die durch den neu­en Para­gra­phen ein­tre­ten wird: Wie künf­tig mit von Poli­zei­ge­walt Betrof­fe­nen soli­da­ri­sch sein, wenn unser bis­he­ri­ges Han­deln; das Hin­lau­fen, Fest­hal­ten, das ver­such­te Raus­zie­hen und genaue Beob­ach­ten nicht etwa hilft, son­dern die Kon­se­quen­zen für die Betrof­fe­nen sogar ver­schlim­mert? Immer­hin sieht der neue §114 vor, die Min­dest­stra­fe von drei Mona­ten zu ver­dop­peln, wenn ein „tät­li­chen Angriff“ von zwei oder mehr Per­so­nen „began­gen“ wird. Kurz: Gelingt die „Gefan­ge­nen­be­frei­ung“ nicht, droht allen Betei­lig­ten ein hal­bes Jahr Knast wenn die Poli­zei es will. Trotz­dem wer­den die Fol­gen des § 114 haupt­säch­li­ch für ande­re anders­wo zu spü­ren sein: Bei „ver­dachts­ab­hän­gi­gen“ wie bei „-unab­hän­gi­gen“ Per­so­nen­kon­trol­len, beim „Raci­al Pro­filing“, bei nicht umge­hend und still befolg­ten „Platz­ver­wei­sen“ etwa für Woh­nungs­lo­se, bei berech­tig­ten Aus­ras­tern im Job­cen­ter, bei Pfän­dungs­maß­nah­men der Behör­den oder bei Zwangs­räu­mun­gen von Woh­nun­gen. Nicht zu ver­ges­sen bei von der Poli­zei erkann­ten „Gefähr­dungs­la­gen“ durch an Stra­ßen­ecken Her­um­ste­hen­de, durch Dro­gen­dea­ler, Bier­trin­ker und ganz all­ge­mein durch Men­schen, die allein durch ihre Anwe­sen­heit die Odnung eines öffent­li­chen Raums „gefähr­den“ könn­ten. Ihnen gegen­über wer­den Poli­zis­tIn­nen die neue Macht aus­spie­len. Und das meist von der Öffent­lich­keit unbe­merkt, und wenn, dann mit zustim­men­der Bil­li­gung durch die Mehr­heits­ge­sell­schaft, wie Reak­tio­nen auf die immer wie­der medi­en­wirk­sam durch­ge­führ­ten poli­zei­li­chen Groß­kon­trol­len in „Gefah­ren­ge­bie­ten“, an „sozia­len Brenn­punk­ten“ oder all­ge­mein in so genann­ten „Angst­räu­men“ zei­gen. Der neue Para­gra­ph ist eine Reak­ti­on auf die Ver­un­si­che­rung der Poli­tik auf die fort­schrei­ten­de sozia­le Spal­tung. Er berei­tet den Rah­men für eine rück­sichts­lo­se Kon­trol­le des öffent­li­chen Raums. Die Fixie­rung lin­ker Kri­tik auf grö­ße­re Repres­si­on gegen mög­li­che Pro­tes­te ver­kennt das eigent­li­che Poten­ti­al des Geset­zes. Sie macht gleich­zei­tig Chan­cen für sinn­vol­le Inter­ven­ti­on unsicht­bar, denn vie­le in der Zukunft Betrof­fe­ne wer­den die Ent­wick­lun­gen gar nicht auf­merk­sam ver­fol­gen. Es gäl­te des­halb, mit ihnen Kon­takt auf­zu­neh­men, sie über das neue Gesetz zu infor­mie­ren und Kanä­le zu öff­nen, auf denen dro­hen­de Falsch­an­zei­gen und Über­grif­fe durch die Poli­zei kom­mu­ni­ziert wer­den kön­nen.

Die gegen­wär­ti­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen um „Sicher­heit“ und die­se angeb­li­ch sicher­stel­len­den Geset­ze sind Aus­ein­an­der­set­zun­gen um öffent­li­chen Raum, nach­dem die Mehr­heits­ge­sell­schaft auf das Ver­trau­en jener, die exklu­diert sind zuneh­mend ver­zich­tet und die Poli­tik den Anspruch auf „Inte­gra­ti­on“ mehr und mehr zuguns­ten einer offe­nen Repres­si­on auf­gibt. Nach in den letz­ten Jah­ren ver­mehrt aus­ge­spro­che­nen Ver­bo­ten öffent­li­chen Alko­hol­kon­sums und teil­wei­se per­ma­nen­ten Kon­trol­len ein­zel­ner Grup­pen, sowie immer wei­ter pri­va­ti­sier­ten ehe­mals öffent­li­chen Zonen in den Innen­städ­ten wird die nächs­te Stu­fe in der Aus­ein­an­der­set­zung dar­um gezün­det, wer den öffent­li­chen Raum zu was nut­zen darf. Aller­dings wird mit dem Rück­zug eines „mode­rie­ren­den“ Staa­tes und des Anspruchs sei­ner Poli­zei, ohne Aus­nah­me „für alle“ da zu sein, in den Kie­zen und Vier­teln auch eine Leer­stel­le geschaf­fen, die eine akti­ve Lin­ke im Kampf um die­sen öffent­li­chen Raum eigent­li­ch beset­zen müss­te. Das setz­te aller­dings not­wen­di­ger­wei­se Inter­es­se an und Koope­ra­ti­on mit peri­phe­ren Grup­pen vor­aus. Das weit­ge­hen­de Des­in­ter­es­se in der deut­schen Lin­ken an den immer wie­der hef­tig geführ­ten Kämp­fen in den fran­zö­si­schen Ban­lieues, wo eine sol­che Ent­wick­lung im fort­ge­schrit­te­nen Sta­di­um zu besich­ti­gen ist, und wo manch­mal gan­ze Vier­tel gegen Poli­zei­ge­walt revol­tie­ren, lässt aber zwei­feln. Das Ver­har­ren in der eige­nen Wirk­lich­keits­bla­se ver­hin­dert aber nicht nur die Wahr­neh­mung von Ver­schär­fun­gen der Lage, son­dern auch das Ent­ste­hen neu­er Koali­tio­nen auf der Stra­ße an denen wir betei­ligt sind (und nicht fun­da­men­ta­lis­ti­sche oder sogar rech­te Struk­tu­ren). Gleich­zei­tig behin­dert es auch eine stra­te­gi­sche Ana­ly­se gesell­schaft­li­cher Ent­wick­lun­gen und Brü­che. Dabei könn­te uns die Ent­wick­lung sogar in die Hän­de spie­len, denn sie eröff­net eben nicht nur neue Inter­ven­ti­ons­fel­der.

Sie müss­te eben­so zu einem Hin­ter­fra­gen eige­ner Akti­ons­for­men und seit Jah­ren bestehen­der Rou­ti­nen füh­ren – nicht nur, weil die ange­spro­che­nen nöti­gen Inter­ven­tio­ne­n­en nicht in der Form lega­li­sier­ter Pro­tes­te ablau­fen kön­nen, weil den Betrof­fe­nen appel­la­tiv in Kame­ras gehal­te­ne Pro­test­schil­der weni­ger hel­fen als das Her­stel­len von Über­zahl im geeig­ne­ten Moment. Auch das Repres­si­ons­po­ten­ti­al, das sich tat­säch­li­ch gegen lin­ke Struk­tu­ren rich­ten wird, erfor­der­te zum Bei­spiel die Über­prü­fung der Gewohn­heit, dass Demons­tra­tio­nen seit Jah­ren in der Regel nur noch ange­mel­det statt­fin­den. Schon bis­her muss die Tat­sa­che, bewusst und aus­schließ­li­ch auf jene Spiel­fel­der zu mobi­li­sie­ren, auf denen die Poli­zei bes­tens vor­be­rei­tet und mit weit über­le­ge­ner Aus­rüs­tung agiert, mehr als ein Stirn­run­zeln aus­lö­sen. Wenn künf­tig auch die Teil­nah­me an aus­schließ­li­ch ange­mel­de­ten Demos nicht mehr wenigs­tens mit hin­rei­chen­der Sicher­heit vor einer Haft­stra­fe schützt, war­um soll­te die­ser Nach­teil dann noch län­ger hin­ge­nom­men wer­den? Es nicht mehr zu tun, eröff­ne­te neue stra­te­gi­sche Mög­lich­kei­ten. Bis­her ist es noch zu kei­nem Anlass ist es gelun­gen, eine durch Groß­er­eig­nis­se beding­te Per­so­nal­schwä­che der Poli­zei an ande­ren Orten zu unse­ren Guns­ten aus­zu­nut­zen. Doch das muss ja nicht so blei­ben. Dezen­tral, kurz, schnell und vor allem unbe­re­chen­bar müss­ten unse­re Reak­tio­nen aus­fal­len, gera­de weil die Poli­zei im All­tags­ge­sche­hen den Vor­teil der Über­zahl und über­le­ge­ner Aus­rüs­tung nicht – oder nur mit erheb­li­cher Ver­zö­ge­rung – aus­spie­len kann. Es ist also fal­sch, den an vie­len Stel­len lau­fen­den Geset­zes­ver­schär­fun­gen und dem Aus­bau des repres­si­ven Appa­rats nur bekla­gend und mit Furcht zu begeg­nen. Natür­li­ch muss umsich­tig und vor­be­rei­tet damit umge­gan­gen wer­den; vor allem aber soll­te es uns auf­zei­gen, wie ver­un­si­chert Herr­schen­de und ihre Poli­zei sein kön­nen, wenn der gesell­schaft­li­che Grund­kon­sens zer­fällt. Und die­se Ver­un­si­che­rung soll­te uns auf jene Hand­lungs­fel­der füh­ren, an denen wir sie aus­nut­zen und ver­stär­ken kön­nen – ger­ne gemein­sam mit ande­ren, die sich im Kampf um den öffent­li­chen Raum befin­den.

Autoritäre Entwicklungen I

Ver­an­stal­tung­be­richt Teil 1 – Poli­ti­sche Pro­zes­se (Teil 2)

Der „Krieg gegen den Ter­ror” dau­ert inzwi­schen seit fast sech­zehn Jah­ren. In den letz­ten andert­halb Deka­den hat er sich in Gesell­schaf­ten hin­ein­ge­fres­sen und zu zuneh­mend auto­ri­tä­ren Ent­wick­lun­gen geführt. Fast alle Aspek­te des Daseins (und der poli­ti­schen Kämp­fe sowie­so) sind inzwi­schen von Maß­nah­men zur Erhö­hung einer vor­geb­li­chen „Sicher­heit” erfasst und es ist sehr schwer alle Ver­schär­fun­gen zu regis­trie­ren, geschwei­ge denn, sie in Zusam­men­hän­ge zu brin­gen. Die Aus­wei­tun­gen repres­si­ver Geset­ze erfol­gen mal gegen die­se, mal gegen jene angeb­li­che oder ech­te Bedro­hung; ihre Aus­wir­kun­gen betref­fen jedoch alle die mit der Staats­ge­walt in Kon­flikt gera­ten kön­nen. Im Nach­gang des Anschlags auf den Ber­li­ner Weih­nachts­markt erlebt auch die BRD wie­der ein­mal eine mas­si­ve Aus­wei­tung staat­li­cher Befug­nis­se und juris­ti­scher Hand­ha­be. Mit die­sem Ver­an­stal­tungs­be­richt zur Anti-Repres­si­ons­ver­an­stal­tung am 28.3. in Wup­per­tal soll das Gan­ze etwas geord­net wer­den.

Im Ver­lauf des Abends ging es zunächst um Ver­schie­bun­gen der Rechts­spre­chung in so genann­ten „Ter­ro­ris­ten­pro­zes­sen” die der­zeit meist gegen migran­ti­sche Men­schen geführt wer­den, denen eine Unter­stüt­zung oder Mit­glied­schaft in „aus­län­di­schen ter­ro­ris­ti­schen Ver­ei­ni­gun­gen” ange­hext wird und um die offen­kun­di­ge Vor­be­rei­tung wei­te­rer § 129b-Ver­fah­ren gegen bis­lang noch lega­le Struk­tu­ren der kur­di­schen Bewe­gung. Wich­ti­ger Schwer­punkt war dann abschlie­ßend die geplan­te Ein­füh­rung eines neu­en Para­gra­phen (§114), der „tät­li­che Angrif­fe gegen Voll­stre­ckungs­be­am­te oder ihnen gleich­ge­stell­te Per­so­nen” zukünf­tig mit einer Min­dest­haft­stra­fe von drei Mona­ten bedro­hen soll (sie­he hier­zu den zwei­ten Teil des Berichts). Ein­ge­la­den zur Dis­kus­si­on waren die so_­ko_wpt-Akti­vis­tin Lati­fe, die bekannt­li­ch auf­grund einer absur­den Ankla­ge­kon­struk­ti­on am 16. Febru­ar 2017 zu einer Haft­stra­fe von drei Jah­ren und drei Mona­ten wegen angeb­li­cher „Mit­glied­schaft” in der tür­ki­schen DHKP-C ver­ur­teilt wur­de, und einer ihrer Anwäl­te, Yener Sözen, der auch ein Man­dat beim bis­lang größ­ten § 129b-Pro­zess in Mün­chen hat. Dort sind gleich zehn Men­schen ange­klagt, der tür­ki­schen TKP/ML anzu­ge­hö­ren, obwohl die­se bis zum heu­ti­gen Tag nicht auf der euro­päi­schen „Ter­ror­lis­te” auf­ge­führt ist. Gekom­men waren auch kur­di­sche Akti­vis­tIn­nen.

In bei­den Ver­fah­ren wird die Anwend­bar­keit des stig­ma­ti­sie­ren­den und mit hohen Straf­an­dro­hun­gen ver­bun­de­nen § 129 über das bis­he­ri­ge Maß aus­ge­wei­tet. Das Urteil gegen Lati­fe spricht bei­spiels­wei­se von einer Mit­glied­schaft in der DHKP-C durch einen „auto­no­men, eige­nen Ent­schluss”, weil sich auch durch mona­te­lan­ge Maß­nah­men zur Über­wa­chung Lati­fes weder eine Beauf­tra­gung durch die Fun­tio­närs­ebe­ne der Orga­ni­sa­ti­on noch ein kon­kre­tes Ereig­nis nach­wei­sen ließ, an dem Lati­fe Mit­glied der DHKP-C gewor­den sein soll. Da die Mit­glied­schaft jedoch für die jus­ti­zia­ble Wand­lung von lega­len Betä­ti­gun­gen, wie etwa die Teil­nah­me oder Vor­be­rei­tung von Demos oder Ver­an­stal­tun­gen, zu so genann­ten „Unter­stüt­zungs­hand­lun­gen” Vor­aus­set­zung ist, stellt die­se Beweis­lo­sig­keit für die Behör­den ein Dilem­ma dar. Die­sem setz­te das Gericht nun die so ein­fa­che wie absur­de Behaup­tung ent­ge­gen, jemand kön­ne sich auch ohne Kennt­nis der Füh­rung­ka­der zum Mit­glied einer „ter­ro­ris­ti­schen Orga­ni­sa­ti­on” machen. Damit hebel­te es die Not­wen­dig­keit aus, Beschul­dig­ten eine Mit­glied­schaft im Ein­zel­fall nach­wei­sen zu müs­sen. Bleibt der BGH im Revi­si­ons­ver­fah­ren bei die­ser Aus­le­gung, macht das den Behör­den zukünf­tig mög­li­ch, Per­so­nen, die etwa ledig­li­ch in Besitz von Lite­ra­tur oder ande­ren Mate­ria­li­en einer ale „ter­ro­ris­ti­sch” ein­ge­stuf­ten Orga­ni­sa­ti­on sind und an ange­mel­de­ten Demos teil­nah­men, als „selbst­de­fi­nier­te” Mit­glie­der zu ver­fol­gen. Aus der ein­fa­chen Demons­tra­ti­ons­teil­nah­me wird dann eine Unter­stüt­zungs­hand­lung. In Kom­bi­na­ti­on mit der Münch­ner Ankla­ge, in der es selbst an einer Defi­ni­ti­on der betrof­fe­nen Orga­ni­sa­ti­on als „ter­ro­ris­ti­sch” fehlt, eröff­net das Behör­den völ­lig neue Mög­lich­kei­ten zur Kri­mi­na­li­sie­rung poli­ti­sch akti­ver Men­schen.

Doch auch wenn die­se Aus­wei­tun­gen aktu­ell in Ver­fah­ren gegen lin­ke Akti­vis­tIn­nen erfol­gen, heißt das nicht, dass es spe­zi­ell und vor allem gegen lin­ke Struk­tu­ren gerich­te­te Ver­schär­fun­gen sind. So ist bei­spiels­wei­se die juris­ti­sche Neu­kon­struk­ti­on einer „selbst­de­fi­nier­ten Mit­glied­schaft” vor allem auch gegen Sym­pa­thi­san­ten von isla­mis­ti­schen Grup­pen anwend­bar; ein Feld, in dem die Ver­fol­gungs­be­hör­den mit ihren Ver­su­chen zur Infil­tra­ti­on bis­lang wenig erfolg­reich waren, wes­halb es an kon­kre­ten Nach­wei­sen für den „Ein­tritt” in eine Orga­ni­sa­ti­on oft man­gelt. Auf der ande­ren Sei­te wer­den in Pro­zes­sen gegen Unter­stüt­ze­rIn­nen von in Syri­en oder dem Irak akti­ven isla­mis­ti­schen Grup­pen von Lin­ken fast unbe­merkt Rechts­nor­men neu gesetzt, die eben­so gegen sie selbst in Stel­lung gebracht wer­den kön­nen. Ver­wie­sen sei bei­spiels­wei­se auf das Urteil in Han­no­ver gegen eine jugend­li­che Atten­tä­te­rin, die mit einem Mes­ser auf Poli­zis­ten los­ge­gan­gen war. In ihrem Pro­zess wur­de nicht nur sie ver­ur­teilt, son­dern auch ein Bekann­ter, der zuvor von ihren Plä­nen wuss­te, mög­li­cher­wei­se aus­weis­li­ch von durch die Behör­den sicher­ge­stell­ten Chat-Pro­to­kol­len. Das angeb­li­che „Vor­wis­sen” führ­te zu einer zwei­jäh­ri­gen Haft­stra­fe ohne Bewäh­rung. Ein har­tes Urteil, das in ver­gleich­ba­ren Fäl­len so bis­lang noch nicht gefällt wur­de. Es könn­te auch für Lin­ke bedeu­ten, zukünf­tig jede Chat­grup­pe und jede Ver­samm­lung umge­hend zu ver­las­sen, in denen über mög­li­cher­wei­se straf­recht­li­ch rele­van­te Ide­en gere­det wird. Alter­na­tiv blie­be nur eine Denun­zia­ti­on blie­be, was zumin­dest bes­tens dazu geeig­net ist, in poli­ti­schen Struk­tu­ren Miss­trau­en zu pro­du­zie­ren.

Pro­ble­ma­ti­sch ist, dass Ände­run­gen und Ver­schär­fun­gen von vie­len oft nur wahr­ge­nom­men wer­den, wenn sie die eige­ne Fil­ter-Bub­ble direkt betref­fen. Nicht nur wesent­li­che Ver­än­de­run­gen der Bedin­gun­gen für eige­nes Han­deln blei­ben so teil­wei­se unbe­merkt, es fehlt auch an spek­tren­über­grei­fen­den Stra­te­gi­en für den Umgang damit. Grup­pen die heu­te noch nicht betrof­fen sind, kön­nen mor­gen sel­ber im Fokus ste­hen. Wie eine Kri­mi­na­li­sie­rung vor­be­rei­tet wird, lässt sich recht gut am Bei­spiel der durch Innen­mi­nis­ter De Mai­zie­re kürz­li­ch ver­bo­te­nen Sym­bo­le und Fah­nen kur­di­scher Orga­ni­sa­tio­nen beob­ach­ten. In einer Ant­wort auf eine via Twit­ter gestell­te Fra­ge teil­te das Innen­mi­nis­te­ri­um mit, die betrof­fe­nen Ver­ei­ne und Orga­ni­sa­tio­nen (z.B. die YPG, YPJ in Roja­va oder der Ver­band kur­di­scher Stu­die­ren­der in Deutsch­land, YXK) sei­en völ­lig legal und blie­ben es auch. Unbe­nom­men davon wür­de das Mit­füh­ren ihrer Fah­nen und Sym­bo­le bei kur­di­schen Demons­tra­tio­nen künf­tig jedoch als Unter­stüt­zung der ille­ga­li­sier­ten PKK gewer­tet. Die Teil­nah­me an sol­chen, in der Regel ange­mel­de­ten Demons­tra­tio­nen und das Mit­füh­ren der jetzt ver­bo­te­nen Sym­bo­le kann somit künf­tig eine „Terr­ro­un­ter­stüt­zung” dar­stel­len, unab­hän­gig davon, ob die Orga­ni­sa­ti­on, in der jemand mit­ar­bei­tet, einen lega­len Sta­tus hat. Bei Bedarf wer­den so u.U. Ermitt­lun­gen nach § 129b ermög­licht – mit allen damit ver­bun­de­nen Kon­se­quen­zen, die zwar nicht immer zu einem Ver­fah­ren füh­ren, den Behör­den jedoch auf­grund von Haus­durch­su­chun­gen und Beschlag­nah­men immer umfang­rei­che Erkennt­nis­se zu den betrof­fe­nen Struk­tu­ren ver­schaf­fen. Auch Lati­fe war ledig­li­ch vier Jah­re lang Vor­sit­zen­de eines bis heu­te nicht ver­bo­te­nen Ver­eins, der „Ana­to­li­schen Föde­ra­ti­on”. Ihre Erfah­run­gen kön­nen für ande­re durch­aus hilf­reich sein.

Eine grö­ße­re Auf­merk­sam­keit für juris­ti­sche Ver­schär­fun­gen und neue Geset­ze, selbst wenn sie uns nicht direkt betref­fen und übri­gens auch im Bereich des so genann­ten „Daten­schut­zes”, wür­de es erleich­tern, Ent­wick­lun­gen rich­tig ein­zu­sor­tie­ren. Das wäre die Vor­aus­set­zung dafür, vor­aus­schau­end Gegen­stra­te­gi­en zu ent­wick­len. Oft wird jedoch erst reagiert, wenn es eigent­li­ch zu spät ist. So stellt sich zum Bei­spiel die Fra­ge, ob es sinn­voll ist, sich jetzt sym­bo­li­sch am Ver­bot von kur­di­schen Sym­bo­len abzu­ar­bei­ten und den Behör­den qua­si „frei Haus” spä­ter Ein­setz­ba­res zu lie­fern. Bes­ser wäre es, sich auf wahr­schein­li­ch Kom­men­des ein­zu­stel­len. Zu erwar­ten ist, dass das Sym­bol­ver­bot ein Instru­men­ta­ri­um bereits­stel­len soll, jeder­zeit bis­lang vom Staat tole­rier­te mit Roja­va oder der kur­di­schen Bewe­gung soli­da­ri­sche Struk­tu­ren über eine (infor­mel­le) PKK-Kop­pe­lung zu kri­mi­na­li­sie­ren. Dass der Zeit­punkt einer sol­chen Kri­mi­na­li­sie­rung aus­schließ­li­ch von aktu­el­len außen­po­li­ti­schen Inter­es­sen Deutsch­lands bestimmt ist, ließ sich im Ver­lauf des Ver­fah­rens gegen Lati­fe eben­falls erfah­ren. Für kur­di­sche Akti­vis­tIn­nen in Deutsch­land bedeu­te­te das, eine teil­wei­se ein­gei­gel­te und iso­lier­te Hal­tung auf­zu­ge­ben und offen­si­ver den eige­nen Kampf mit hie­si­gen Kämp­fen zu ver­bin­den. So könn­te es hilf­reich sein, Inha­be­rIn­nen eines deut­schen Pas­ses in die Vor­stän­de der Ver­ei­ne ein­zu­bin­den, bis­her jeden­falls nutzt der deut­sche Staat sei­ne Mög­lich­kei­ten vor allem, wenn es eher unbe­merkt bleibt, weil Infor­ma­tio­nen zu repres­si­ven Vor­gän­gen aus der migran­ti­schen Com­mu­ni­ty sel­ten hin­aus­kom­men. Umge­kehrt setz­te dies jedoch auch ein grö­ße­res Inter­es­se und eine grö­ße­re Soli­da­ri­tät unse­rer­seits bei allen Ver­su­chen der Kri­mi­na­li­sie­rung migran­ti­scher Struk­tu­ren vor­aus; schon aus Eigen­in­ter­es­se, denn repres­si­ve Geset­ze las­sen sich eben auch zu jeder Zeit gegen unse­re Struk­tu­ren rich­ten wenn es dem Staat oppor­tun erscheint.

Von den Phillipinen lernen

Wahn und Wirk­lich­keit 2 — Ver­an­stal­tungs­be­richt (Teil 1)

In den Phil­li­pi­nen regiert seit einem drei­vier­tel Jahr ein Prä­si­dent mit­hil­fe eines Phan­tas­mas, nach dem Dro­gen­händ­ler und Dro­gen­nut­zer für fast alle gesell­schaft­li­chen Pro­ble­me des Lan­des ver­ant­wort­li­ch sind. Bei der ers­ten Ver­an­stal­tung unse­rer Rei­he „Poli­tik in der Rechts­kur­ve“ hat der in Mani­la leben­de Sozio­lo­ge Nik­las Ree­se aus­führ­li­ch dar­über berich­tet. Mit sei­ner Art zur Eta­blie­rung eines auto­kra­ti­schen Sys­tems ist Rod­ri­go Duter­te sicher ein Vor­rei­ter von Poli­tik­kon­zep­ten, die auch in ande­ren Tei­len der Welt Erfol­ge erzie­len, in der Tür­kei, in den USA und nicht zuletzt auch in wei­ten Tei­len Euro­pas. Im zwei­ten Teil unse­res Arti­kels beschäf­ti­gen wir uns mit der Fra­ge, was wir aus Duter­tes Erfolg ler­nen kön­nen, um ähn­li­che Erfol­ge rech­ter Poli­tik zu ver­hin­dern.

Trotz aller Unter­schie­de zu rech­ten oder „rechts­po­pu­lis­ti­schen“ euro­päi­schen oder US-ame­ri­ka­ni­schen Ent­wick­lun­gen – so prä­sen­tiert sich Duter­te zum Bei­spiel als Vor­rei­ter für sexu­el­le Selbst­be­stim­mung und Frau­en­rech­te und pflegt gute Bezie­hun­gen auch zu den mus­li­mi­schen Bevöl­ke­rungs­tei­len auf Mind­a­nao – zeig­te der ers­te Vor­trag unse­rer Rei­he „Poli­tik in der Rechts­kur­ve“ Par­al­le­len zu hie­si­gen poli­ti­schen Ent­wick­lun­gen auf. Nur vor­geb­li­ch „aus dem Nichts“ der Pro­vinz kom­mend, hat Duter­te bis­he­ri­ge Seil­schaf­ten und Sphä­ren poli­ti­schen Ein­flus­ses so genann­ter „alter Eli­ten“ haupt­säch­li­ch des­halb auf­mi­schen kön­nen, weil es sei­ner Kam­pa­gne gelang, eine auf ihn und sein Pro­gramm zuge­schnit­te­ne Rea­li­täts­be­schrei­bung durch­zu­set­zen. In der sind die „Eli­tis­ten“ mit den „Fein­den des Vol­kes“ iden­ti­sch, zumin­dest pak­tie­ren sie mit­ein­an­der.

Duter­tes bizar­re Erzäh­lung von der Ver­ant­wort­lich­keit der Dro­gen­händ­ler und -nut­zer für alle gesell­schaft­li­chen Pro­ble­me ersetzt jene bedroh­li­chen Schi­mä­ren, die in den USA oder in Euro­pa durch rech­te Bewe­gun­gen ange­führt wer­den um kom­ple­xe Zusam­men­hän­ge auf ein­fa­che Schuld­zu­wei­sun­gen zu redu­zie­ren. Gemein­sam ist ihnen die Kon­struk­ti­on par­al­le­ler Wirk­lich­kei­ten, in der ein „Feind“ ein­deu­tig benannt wer­den kann. Das ermög­licht schlich­te „Lösun­gen“ die es nötig machen kön­nen, bis­her gül­ti­ge Gren­zen zu über­schrei­ten. Denn die kon­stru­ier­te Bedro­hung für das glei­cher­ma­ßen hoch­sti­li­sier­te wie auf über­schau­ba­re dörf­li­che Struk­tu­ren geschrumpf­te Gemein­we­sen – „die Nati­on” oder „das Land” – erfor­dert kol­lek­ti­ve Ver­tei­di­gung. Demo­kra­ti­sche oder rechts­staat­li­che Prin­zi­pi­en sind für die „Lösung“ der hal­lu­zi­nier­ten Pro­ble­me hin­der­li­ch und wer­den des­halb mit dem „Feind“ asso­zi­iert. Was für Rod­ri­go Duter­te Men­schen­rechts-NGOs dar­stel­len, sind für die AfD die  „Gut­men­schen“ und die „Ver­schwö­rung” ver­schie­dens­ter „Ver­rä­ter”.

Hin­ter der alter­na­ti­ven Rea­li­täts­be­schrei­bung ver­birgt sich ein durch­aus stra­te­gi­scher fron­ta­ler Angriff auf Grund­rech­te und Demo­kra­tie. Wo sich die­se Stra­te­gie in (West-) Euro­pa oder den USA bis­lang noch im Sta­di­um des Ver­suchs zur Durch­set­zung alter­na­ti­ver Rea­li­täts­be­schrei­bun­gen befin­det, und von vie­len noch nicht als Stra­te­gie erkannt wird, ist sie in den Phil­li­pi­nen schon wei­ter­ge­die­hen. Dort ist zu erle­ben, wie die Umkon­struk­ti­on kol­lek­ti­ver Wirk­lich­keits­be­schrei­bun­gen und ers­te ein­ge­lei­te­te kon­kre­te „Ver­tei­di­gungs­maß­nah­men“ gegen „bedroh­li­che Ele­men­te“ zuvor nur phan­ta­sier­te Angst und Bedro­hung für die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung nach und nach real wer­den las­sen. Die Ver­un­si­che­rung nähert sich so suk­zes­si­ve dem sug­ge­rier­ten „gefühl­ten“ Bedro­hungs­sze­na­rio an. Die Lage der Ein­zel­nen wird tat­säch­li­ch bedroh­li­ch ohne aber dass sich die Betrof­fe­nen gegen die Erschaf­fer ihrer neu­en Rea­li­tät wen­den, wie von Nik­las Ree­se erwähn­te aktu­el­le Umfra­gen bele­gen.

Dafür ist die Wirk­mäch­tig­keit des eta­blier­ten Phan­tas­mas aus­schlag­ge­bend; wach­sen­de Unsi­cher­heit wird nicht auf die eigent­li­chen Ver­ur­sa­cher der Bedro­hung, also z.B. auf die „Death-Squads“, zurück­ge­führt, son­dern ist ledig­li­ch ein Aus­weis der Stär­ke und schein­bar immer grö­ße­ren Bedroh­lich­keit der ima­gi­nier­ten „Volks­fein­de“. Ree­ses Schil­de­rung der phil­li­pi­ni­schen Ent­wick­lun­gen wir­ken wie ein Bericht zu einem sich vor aller Augen aus­bil­den­den Faschis­mus aus dem Lehr­buch: Ein Phan­tas­ma wird eta­bliert und zur Hand­lungs­grund­la­ge gemacht, was die Lebens­rea­li­tä­ten dann real ver­än­dert. Ande­re als die dem Phan­tas­ma imma­nen­ten „Lösun­gen“ sind ab einem bestimm­ten Punkt nicht mehr vor­stell­bar. Beängs­ti­gend ist, mit wel­cher Geschwin­dig­keit die­ser Pro­zess nach dem ers­ten Erfolg – der Prä­si­dent­schafts­wahl – in den Phil­li­pi­nen ablief: Bis zur tat­säch­li­chen Ver­än­de­rung gesell­schaft­li­cher Rea­li­tät dau­er­te es nur neun Mona­te.

Eine Kri­tik an rech­ten Poli­tik­kon­zep­ten, die sich haupt­säch­li­ch an den als „ver­rückt“ emp­fun­de­nen Argu­men­ten und an vor­geb­li­cher Dumm­heit fest­macht, springt daher nicht nur zu kurz, sie erweist sich gera­de­zu als ver­häng­nis­voll. Sie ver­kennt, dass es sich um wohl­über­leg­te, nicht zufäl­li­ge Stra­te­gi­en zur Umwäl­zung der Gesell­schaft han­delt, die auf Gläu­big­keit und nicht auf Ratio­na­li­tät fußen. Duter­tes Erzäh­lung von der „Schuld“ der Dro­gen­händ­ler basier­te nie not­wen­di­ger­wei­se auf Fak­ten, eben­so wenig wie die Behaup­tung einer grö­ße­ren Kri­mi­na­li­tät von Migran­tIn­nen, weil sie schlicht geglaubt wer­den. Die Dif­fa­mie­rung von zuvor glaub­wür­di­gen Quel­len wie NGOs oder unab­hän­gi­gen Medi­en – wie sie zum Bei­spiel aktu­ell auch in der Tür­kei zu beob­ach­ten ist – ist Teil der Stra­te­gie. Sie berei­tet die Immu­ni­sie­rung der an die „alter­na­ti­ve Rea­li­tät” Glau­ben­den gegen Ein­wän­de vor. Ihrer Irra­tio­na­li­tät argu­men­ta­tiv ent­ge­gen­zu­tre­ten, igno­riert, dass die­se Ver­su­che eher glau­bens­ver­stär­kend wir­ken, da sie eine Hand­lung „feind­li­ch ein­ge­stell­ter Men­schen“ dar­stel­len, die ver­hin­dern wol­len, dass „die Wahr­heit“ erkannt wird. Basis ist ein „Innen” und ein „Außen”, reli­giö­se Sek­ten funk­tio­nie­ren genauso.

Wer die Glau­ben­grund­sät­ze zu dis­kus­si­ons­wür­di­gen Mei­nun­gen gesell­schaft­li­cher Dis­kur­se macht, besorgt das Geschäft rech­ter Stra­te­gen. Die Kon­tra­hen­ten einer Dis­kus­si­on wer­den in jedem Fall im Glau­ben bestärkt aus der Debat­te her­vor­ge­hen, gleich­zei­tig wer­den ihre The­sen für neu­tra­le­re Betei­lig­ten mehr und mehr zu nor­ma­len Bei­trä­gen einer Debat­te. Auch das ent­springt rech­tem Kal­kül: Es geht nicht dar­um, dass „Neu­tra­le­re“ – die in Deutsch­land ger­ne als „unpo­li­ti­sch“ oder „nicht rechts, nicht links“ in Erschei­nung tre­ten – anfan­gen, an die alter­na­ti­ve Rea­li­täts­be­schrei­bung zu glau­ben. Es soll bei ihnen viel­mehr zu einer zuneh­men­den Ver­un­si­che­rung ange­sichts der dif­fe­rie­ren­den „Fak­ten“ füh­ren, von denen „am Ende nie­mand mehr wis­sen kann was denn nun stimmt“. Die­ses Ver­wi­schen und unkennt­li­ch machen gehört zur rech­ten Dis­kurs­stra­te­gie: „Neu­tra­le“ sol­len aus Dis­kus­sio­nen her­aus­ge­hal­ten wer­den; Ziel ist, dass sich die, die sich ohne­hin am liebs­ten her­aus­hal­ten, nicht mehr zwi­schen den Wider­sprü­chen ent­schei­den kön­nen; sie wer­den wort­wört­li­ch „neu­tra­li­siert”.

Ein Aus­blen­den der „alter­na­ti­ven Rea­li­täts­be­schrei­bun­gen” heißt nicht, die Ursa­chen ihrer zuneh­men­den Akzep­tanz eben­so aus­zu­blen­den. Die Beschäf­ti­gung mit den Grün­den für den Erfolg der hal­lu­zi­nier­ten „Par­al­lel-Rea­li­tä­ten“ bleibt not­wen­dig. Doch bei den aktu­el­len Debat­ten um die Grün­de für den Erfolg der so genann­ten „Popu­lis­ten” offen­ba­ren die ange­grif­fe­nen Gesell­schaf­ten einen „blin­den Fleck“. Sie zie­hen im Zwei­fel eine inhalt­li­che Dis­kus­si­on einer ana­ly­ti­schen vor. Offen­kun­dig befin­den sie sich an vie­len Stel­len selbst in Erklä­rungs­not – zu vie­les des Bestehen­den basiert sei­ner­seits auf nicht-fak­ti­schen Vor­aus­set­zun­gen. Wo es der so genann­ten „Eli­te“ der Phil­li­pi­nen bei­spiels­wei­se nie gelun­gen ist, die ver­brei­te­te Armut als Fol­ge herr­schen­der Ver­hält­nis­se wahr­zu­neh­men und wirk­sa­me Umver­tei­lun­gen vor­zu­neh­men, gibt es in Euro­pa einen „blin­den Fleck”, wenn es dar­um geht, die eige­ne Ver­ant­wort­lich­kei­ten für welt­wei­te Ursa­chen von Flucht tat­säch­li­ch anzu­er­ken­nen. Anfäl­lig­keit für ein­fa­che Rea­li­täts­kon­struk­tio­nen kann auch eine Flucht vor dem Aner­kennt­nis eige­ner Ver­ant­wor­tung sein.

Dass Mit­tel­schich­ten für „alter­na­ti­ve Rea­li­tä­ten“ ange­sichts des Feh­lens von Pro­blem­be­wusst­sein und nicht vor­han­de­ner „ech­ter” Lösungs­an­sät­ze in beson­de­rem Maß ansprech­bar sind, wäre dem­nach weni­ger einer immer wie­der von Poli­tik und Medi­en ange­führ­ten „Angst vor einem Absturz“ geschul­det, son­dern viel­mehr Aus­druck eines nicht ein­ge­stan­de­nen Wis­sens um eige­ne Ver­ant­wor­tung und der Wei­ge­rung, dar­aus Kon­se­quen­zen zu zie­hen. Auch in den Phil­li­pi­nen wis­sen „die Armen“ letzt­li­ch bes­ser als die (wenig) Besit­zen­den, dass der klei­ne Dro­gen­dea­ler von neben­an nicht wirk­li­ch schuld an ihrer Lage ist. Ohne die The­ma­ti­sie­rung eigent­li­cher Ursa­chen gesell­schaft­li­cher Pro­ble­me kön­nen die von rechts atta­kier­ten bür­ger­li­chen Schich­ten, ihre Poli­ti­ker oder Medi­en im Kampf gegen eine „Poli­tik in der Rechts­kur­ve“ kei­ne tat­säch­li­che Hil­fe sein.

Die Rück­kehr des Natio­na­len und der ein­fa­chen Wirk­lich­keits­be­schrei­bun­gen sind auch Aus­druck zuvor geschei­ter­ter Auf­brü­che und ver­meint­li­ch geschei­ter­ter Alter­na­ti­ven zum Bestehen­den. Sel­ten wird bei der Erfor­schung von Ursa­chen aktu­el­ler Ent­wick­lun­gen auf das geschaut, was vor einer Gene­ra­ti­on die heu­te han­deln­den Per­so­nen (mit-) geprägt hat. Es ist sicher kein Zufall, dass die Wie­der­kehr offen auto­ri­tä­ter Poli­tik in den Phil­li­pi­nen mög­li­ch war, nach­dem eine Gene­ra­ti­on das Schei­tern der mit dem Sturz von Fer­di­nand Mar­cos‘ vor gut dreis­sig Jah­ren ver­bun­de­nen Hoff­nun­gen ihrer Eltern erlebt hat. Auch in den ost­eu­ro­päi­schen Län­dern wie Polen, Rumä­ni­en oder der Slo­wa­kei ist es eine „Nach-Auf­stands-Gene­ra­ti­on“, die eine gro­ße Affi­ni­tät für natio­na­lis­ti­sche Denk­wei­sen ent­wi­ckelt hat. Trifft die Prä­mis­se zu, lässt sie ange­sichts der fort­ge­setz­ten Rei­he geschei­ter­ter Revol­ten (etwa in der Tür­kei oder im so genann­ten „ara­bi­schen Früh­ling“) für die Zukunft Böses erah­nen. Eine fun­dier­te kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit geschei­ter­ten Auf­brü­chen aus lin­ker Sicht ist daher über­fäl­lig.

Der­zeit ist die drin­gends­te Fra­ge, wie rech­te Stra­te­gi­en zur Durch­set­zung einer neu­en Wirk­lich­keits­be­schrei­bung recht­zei­tig durch­kreuzt wer­den kön­nen und wann es für einen Kampf um ver­meint­li­che Mehr­hei­ten bereits zu spät ist. Zumal dann, wenn aus oben genann­te Grün­den kaum ent­schlos­se­ne Unter­stüt­zung aus der bür­ger­li­chen Mit­te zu erwar­ten ist. Ange­sichts der Hoch­ge­schwin­dig­keit, mit der dem Macht­erhalt die­nen­de Maß­nah­men durch Auto­kra­ten durch­ge­setzt wer­den, besteht die Gefahr, den Zeit­punkt für not­wen­di­ge Stra­te­gie­wech­sel schlicht zu ver­pas­sen. Sowohl die Phil­li­pi­nen als auch bei­spiels­wei­se die Tür­kei sind in ver­schre­ckend kur­zer Zeit von Län­dern mit eigent­li­ch hohem Wider­stand­po­ten­ti­al zu in wei­ten Tei­len para­ly­sier­ten Gesell­schaf­ten gewor­den. Auf dem Weg dahin wur­den Lini­en über­schrit­ten, von denen jeweils noch kurz zuvor ange­nom­men wur­de, dass das zu ent­schlos­se­nem Wider­stand füh­ren wür­de. In dem einen wie dem ande­ren Fall ist eine „Exit“-Perspektive jen­seits kata­stro­pha­ler wirt­schaft­li­cher oder gewalt­sa­mer Ent­wick­lun­gen inzwi­schen kaum noch denk­bar.

Wann also erreicht eine eta­blier­te Wirk­lich­keits­ver­zer­rung von rechts den „point of no return“ jen­seits zivil­ge­sell­schaft­li­cher Kor­rek­tur­mög­lich­kei­ten? Reicht ein Wahl­sieg schon aus? Muss es erst zur Umset­zung kon­kre­ter „Lösungs“-Maßnahmen für die in der rech­ten Phan­ta­sie­welt ein­ge­schrie­be­nen „Pro­ble­me“ gekom­men sein, die das Erle­ben der Men­schen real prä­gen, so, wie die mas­sen­haf­ten Mor­de in den Phil­li­pi­nen? Und wenn ja, wel­che Maß­nah­men sichern die neue Herr­schaft rech­ter Ideo­lo­gi­en so ab, dass die Oppo­si­ti­on sich und ihre Akti­vi­tät ganz neu defi­nie­ren muss? Zu befürch­ten ist, dass der Pro­zess der Unum­kehr­bar­keit in der Wahr­neh­mung Ein­zel­ner ein schlei­chen­der ist und dass es vor dem Errei­chen des „point of no return“ kein lau­tes „Aler­ta!” geben wird. Solan­ge die rech­ten Ver­su­che, die sub­jek­ti­ve Wirk­lich­keit kol­lek­tiv neu zu bestim­men noch nicht erfolg­reich sind, muss ihnen des­halb ent­schlos­sen ent­ge­gen getre­ten wer­den. Immer wie­der von der bür­ger­li­chen Mit­te in blau­äu­gi­ge Debat­ten um „Demo­kra­tie­fä­hig­keit” und eine „Not­wen­dig­keit zum Dia­log” ver­wi­ckelt zu wer­den, ist da nicht hilf­reich.

Dutertes Phantasma

Wahn und Wirk­lich­keit 1 — Ver­an­stal­tungs­be­richt (Teil 2)

Der phil­li­pi­ni­sche Prä­si­dent Rod­ri­go Duter­te ist sicher soet­was wie ein Vor­rei­ter wahn­haf­ter Poli­tik­in­sze­nie­run­gen zur Eta­blie­rung eines auto­kra­ti­schen Sys­tems. Sein Kon­zept, das das Wir­ken von Dro­gen­händ­lern und -nut­ze­rin­nen für fast alle Pro­ble­me der phil­li­pi­ni­schen Gesell­schaft ver­ant­wort­li­ch macht, führ­te Mit­te 2016 zu sei­nem Sieg bei den Prä­si­dent­schafts­wah­len. Der in Mani­la leben­de Sozio­lo­ge Nik­las Ree­se war im Janu­ar zu Gast bei der ers­ten Dis­kus­si­on unse­rer Rei­he „Poli­tik in der Rechts­kur­ve“.

Kurz nach unse­rer Dis­kus­si­on mit Nik­las Ree­se im Wup­per­ta­ler „ADA“ ver­kün­de­te Duter­te, er beab­sich­ti­ge nun­mehr, sei­nen ursprüng­li­ch bis März 2017 aus­ge­ru­fe­nen „Krieg gegen Dro­gen“ bis zum Ende sei­ner Amts­zeit im Jahr 2022 zu ver­län­gern. Die bis­he­ri­ge Quo­te extra­le­gal Hin­ge­rich­te­ter hoch­ge­rech­net, ist die­se Ankün­di­gung für min­des­tens 60.000 Men­schen gleich­be­deu­tend mit einem Todes­ur­teil. In den sie­ben Mona­ten seit sei­ner Wahl kam es in den Phil­li­pi­nen zu 7.500 Mor­den an angeb­li­chen „Dro­gen­händ­lern“, aber auch ver­meint­li­chen „Dro­gen­süch­ti­gen“. Ob es sich bei den ermor­de­ten um Men­schen han­delt, die mit Dro­gen etwas zu tun haben, ist oft völ­lig unklar, sagt Nik­las Ree­se. An den Lei­chen, die jeden Mor­gen in den Stra­ßen Mani­las lie­gen, wird häu­fig ledig­li­ch ein Zet­tel mit einer ent­spre­chen­den Behaup­tung hin­ter­las­sen.

Laut Nik­las Ree­se wer­den die „extra­le­ga­len Hin­rich­tun­gen” sehr häu­fig von Poli­zis­ten began­gen, die sich mit den Exe­ku­tio­nen eine Prä­mie ver­die­nen. Nach­dem es einen Skan­dal um einen „irr­tüm­li­ch“ ermor­de­ten süd­ko­rea­ni­schen Geschäfts­mann gab, hat Duter­te jedoch inzwi­schen „Umstruk­tu­rie­run­gen“ im Hin­rich­tungs­busi­ness ange­kün­digt. Zukünf­tig könn­ten Tei­le der Armee den Job der durch und durch kor­rup­ten Poli­zei­ein­hei­ten erle­di­gen. Doch im Geschäft mit extra­le­ga­len Tötun­gen sind ohne­hin auch noch ande­re Grup­pen tätig: Riva­li­sie­ren­de Gangs ent­le­di­gen sich unter dem Deck­man­tel des „Kriegs gegen Dro­gen” ihrer Wett­be­wer­ber, und auch „ein­fa­che Leu­te den­ken jetzt, dass Töten die schnells­te und effi­zi­en­tes­te Art ist, mit Pro­ble­men fer­tig zu wer­den,“ zitier­te Nik­las Ree­se Ana Marie Pamin­tu­an, Kolum­nis­tin des „Phil­ip­pi­ne Star“. Ein Straf­rechts­sys­tem, das selbst bei Mor­den ohne Klä­ger oder Klä­ge­rin kei­ne wei­te­ren Ermitt­lun­gen vor­sieht, macht die Will­kür- und Selbst­jus­tiz rela­tiv risi­ko­los. Schließ­li­ch kön­nen poten­ti­el­le Klä­ger sel­ber zum nächs­ten Opfer wer­den, wenn die Gefahr besteht, dass sie eine Tat zur Anzei­ge brin­gen.

Duter­tes „Krieg gegen die Dro­gen“ ist plan­mä­ßig orga­ni­siert. „Jedes Stadt­vier­tel ist ange­hal­ten, eine Lis­te mit den mut­maß­li­chen Dro­gen­ab­hän­gi­gen und Dea­lern der Gegend anzu­fer­ti­gen. Wenn sich nicht genü­gend Ver­däch­ti­ge fin­den las­sen (um die vor­ge­ge­be­ne Quo­te zu erfül­len), sehen sich die Orts­vor­ste­her gezwun­gen, die Lis­te mit ande­ren auf­zu­fül­len“, beschreibt Nik­las Ree­se die hier­ar­chi­sche Struk­tur der Arbeit der Todes­schwa­dro­ne. Die Armen­vier­tel wer­den durch­kämmt, Bewoh­ne­rIn­nen bei „Besu­chen“ von der Poli­zei ein­ge­schüch­tert und gewarnt, sie könn­ten „die nächs­ten“ sein. Über sechs Mil­lio­nen Häu­ser hat die Poli­zei bereits auf­ge­sucht. Ihre „Erfol­ge“ wer­den öffent­li­ch aus­ge­stellt. Duter­te und die Poli­zei­füh­rung sind stolz auf die Mor­de: An Mani­las Poli­ce-Head­quar­ter wird die Zahl getö­te­ter „Dro­gen­händ­ler“ an der Fas­sa­de ver­kün­det und regel­mä­ßig aktua­li­siert. Wer Glück hat und nicht getö­tet wur­de, wird ver­haf­tet. Etwa 50.000 Men­schen sind so in Gefäng­nis­se ver­schleppt wor­den, die hoff­nungs­los über­füll­ten Ker­kern ähneln.

Im Kli­ma der Angst haben es vie­le vor­ge­zo­gen, sich selbst zu bezich­ti­gen. Ein Pro­zent der Gesamt­be­völ­ke­rung, eine Mil­lion Fili­pi­nos also, hat sich so inzwi­schen der Poli­zei „erge­ben“, wie es in der vor­herr­schen­den Kriegs­rhe­to­rik heißt. Der „Krieg“, in den Rod­ri­go Duter­te die Bevöl­ke­rung geführt hat, rich­tet sich vor­geb­li­ch gegen einen von der Dro­gen­ma­fia kon­trol­lier­ten Staat und gegen die, „die das erkannt haben und jenen, die nicht wol­len, dass die Mehr­heit klar­sieht“, wie Ree­se das Feind­bild der Regie­rung beschreibt. Ihre Fein­de sind alte „Eli­tis­ten“, west­li­che Regie­run­gen und aus­län­di­sch kon­trol­lier­te NGOs, die durch ihr Ver­hal­ten den von Duter­te mit sei­nem Wahl­slo­gan pro­pa­gier­ten „wirk­li­chen Neu­an­fang“ ver­hin­der­ten. Men­schen­rechts­ak­ti­vis­tin­nen und Rechts­an­wäl­te, die bereit sind, sich der Bedroh­ten anzu­neh­men wird mit ihrer Ermor­dung gedroht – indem sie sich um die Ver­däch­ti­gen küm­mer­ten, ver­zö­ger­ten sie die Lösung des Dro­gen­pro­blems. im Zwei­fel wird auch ihnen vor­ge­wor­fen, aktiv in den Han­del mit Dro­gen ver­strickt zu sein.

Duter­te ist es gelun­gen, im Lau­fe sei­ner dis­ney­land­haf­ten Kam­pa­gne das Dro­gen­pro­blem zur Wur­zel allen Übels zu machen. Das durch sei­ne Wahl eta­blier­te Phan­tas­ma gip­felt dar­in, die Lösung des Dro­gen­pro­blems füh­re auto­ma­ti­sch zur Lösung aller Pro­ble­me der Phil­li­pi­nen. Sozia­le Ungleich­heit und olig­ar­chi­sche Struk­tu­ren lös­ten sich in Luft auf, wenn erst alle Dro­gen­nut­zer umge­bracht sei­en. Ihre Zahl bezif­fert Duter­te ins­ge­samt auf vier Mil­lio­nen. Die Eta­blie­rung die­ser Erzäh­lung gelang durch die stän­di­ge Wie­der­ho­lung fal­scher Tasta­chen durch ihm erge­be­nen Medi­en im Wahl­kampf, was eine regel­rech­te Panik erzeug­te. So steht der Zahl von 4 Mil­lio­nen Dro­gen­ab­hän­gi­gen die Erhe­bung der Dro­gen­be­hör­de gegen­über, die selbst nur von 1,8 Mio. Betrof­fe­nen spricht. Auch eine unter sei­nem Amts­vor­gän­ger Aqui­no ver­drei­fach­te Kri­mi­na­li­tätzif­fer und dass Dro­gen­ab­hän­gi­ge für 75% der schwe­ren Ver­bre­chen ver­ant­wort­li­ch sein sol­len, hält einer Über­prü­fung nicht stand.

Die per­ma­nen­te Wie­der­ho­lung die­ser „alter­na­ti­ven Fak­ten“ und die dar­aus abge­lei­te­te Mög­lich­keit, für alle Übel der phil­li­pi­ni­schen Gesell­schaft Schul­di­ge in Form der Dro­gen­händ­ler und -nut­zer prä­sen­tie­ren zu kön­nen, funk­tio­nier­te erstaun­li­ch gut. Noch 2015 mach­ten sich laut Umfra­gen des Insti­tuts „Pul­se Asia“ nur 30% der Fil­li­pi­nos Sor­gen dar­über, Opfer eines Ver­bre­chens zu wer­den und die Kri­mi­na­li­täts­be­kämp­fung gehör­te für nur 20% zu den drei wich­tigs­ten Auf­ga­ben phil­li­pi­ni­scher Poli­tik. Vor der Wahl, Mit­te 2016 war es dann schon die Hälf­te aller Wahl­be­rech­tig­ten. Armut und „Cha­rak­ter­lo­sig­keit“ gal­ten nicht län­ger als wesent­li­che Ursa­chen für Kri­mi­na­li­tät, wie Ree­se aus­führ­te. Die Erzäh­lung von der Schuld der mar­gi­na­li­sier­ten Süch­ti­gen war erfolg­reich. Weder von Duter­te geäu­ßer­te bru­ta­le Ver­ge­wal­ti­gungphan­ta­si­en noch sei­ne Behaup­tung, als ehe­ma­li­ger Bür­ger­meis­ter der Stadt Davao sel­ber „min­des­tens“ drei Mor­de began­gen zu haben, führ­te zur Ableh­nung sei­ner Rea­li­täts­be­schrei­bung. Und die Wir­kung der kol­lek­ti­ven „Gehirn­wä­sche“ hält bis heu­te an.

Laut aktu­el­ler Umfra­gen ver­trau­en wei­ter­hin 85% der Fili­pi­nos dem Prä­si­den­ten, obwohl gleich­zei­tig fast 80% fürch­ten, sel­ber zum „Kol­la­te­ral­scha­den“ im „Krieg gegen Dro­gen“ zu wer­den. So bezeich­net Duter­te die­je­ni­gen, die „aus Ver­se­hen“ umge­bracht wer­den. Sein Rück­halt ist dabei klas­sen­über­grei­fend, Ange­hö­ri­ge der Mit­tel- und Ober­schicht unter­stüt­zen Duter­te gar stär­ker als die­je­ni­gen, die nur eine Grund­schul­aus­bil­dung haben. „Er hat nicht unter den Unge­bil­de­ten und an den Rand Gedräng­ten am bes­ten abge­schnit­ten“ sagt Ree­se. Sein lan­des­wei­ter Anteil an Stim­men von 36% wur­de bei Ange­hö­ri­gen der Mit­tel­klas­se um fast ein Drit­tel über­trof­fen und bei Wäh­lern und Wäh­le­rin­nen mit Col­le­ge­ab­schluss erreich­te Duter­te fast 50%. Unter gebil­de­ten Städ­tern schnitt Duter­te bes­ser ab als in länd­li­chen Regio­nen. Noch fins­te­rer waren die Ergeb­nis­se bei den in der Dia­spora leben­den Fili­pi­nos, die mit 75% für Duter­te stimm­ten. „Es ist nicht das alte Land­ei oder das abge­häng­te Pro­le­ta­ri­at gewe­sen“, wie Ree­se aus­führ­te, „Duter­te ist Kan­di­dat der Neu­rei­chen und der halb­wegs Erfolg­rei­chen“. Sein Kon­fron­ta­ti­ons­kurs mit den „alten Eli­ten“ veschaff­te ihm zudem zeit­wei­se auch die Unter­stüt­zung der alten lin­ken Oppo­si­ti­on. Seit­dem Ex-Dik­ta­tor Fer­di­nand Mar­cos, der von 1972 bis 1986 einen blu­ti­gen Krieg gegen die Lin­ke führ­te, auf dem Hel­den­fried­hof begra­ben wer­den durf­te, beginnt die­se jedoch zu brö­ckeln.

Im Par­la­ment bil­det sich die exor­bi­tan­te Zustim­mung durch 280 von 297 Abge­ord­ne­ten des „Unter­hau­ses“ ab. Es ist Duter­tes so genann­te „super majo­ri­ty“. In sei­ner Hei­mat­re­gi­on Mind­a­nao, in der der sich gern als „Anti-Esta­blish­ment“ insze­nie­ren­de Duter­te vor allem in der größ­ten Stadt Davao-City über weit­rei­chen­de Netz­wer­ke ver­fügt, erhielt er bis zu 90% der Wäh­le­rIn­nen­stim­men. Dort war sein Mythos ent­stan­den, als Bür­ger­meis­ter Dava­os die Mil­lio­nen­stadt zu einer Art Mus­ter­stadt und mit­hil­fe der jetzt lan­des­weit ange­wen­de­ten Metho­den „dro­gen­frei“ gemacht zu haben. Ree­se, der vor sei­nem Umzug nach Mani­la selbst in Davao gelebt hat, sagt, dass auch hier die „alter­na­ti­ve Fak­ten“ wirk­sam gewor­den sei­en. Davao-City sei noch immer die Stadt mit einer der höchs­ten Ver­bre­chens­ra­ten der Phil­li­pi­nen, was den Ver­dacht nährt, dass es sich bei dem gan­zen „Krieg gegen Dro­gen“ ähn­li­ch wie in Mexi­ko vor allem auch um Metho­den der Umver­tei­lung von Macht zwi­schen ver­schie­de­nen Clans bzw. Kar­tel­len han­deln könn­te.

Doch auch in die­sem Fall hat sich die „alter­na­ti­ve Rea­li­tät“ weit­flä­chig eta­bliert. Bei Dis­kus­sio­nen und in Kom­men­tar­spal­ten wird selbst in Euro­pa immer wie­der auf eine erfolg­rei­che Zeit Duter­tes als Bür­ger­meis­ter in Davao hin­ge­wie­sen, wenn Kri­tik an der bru­ta­len Umset­zung sei­ner Zie­le laut wird. Die „alter­na­ti­ve Rea­li­täts­be­schrei­bung“ als erfolg­rei­cher Macher in Davao, der auch nicht davor zurück­schreckt, sich „die Hän­de schmut­zig zu machen“, ist wesent­li­cher Bestand­teil der Kam­pa­gne von Rod­ri­go Duter­te. Auch nach der Wahl möch­te er nicht „Prä­si­dent“ son­dern wei­ter­hin lie­ber „Mayor“ genannt wer­den. Vor­aus­set­zung sei­nes Erfolgs ist die Sicht auf das Gemein­we­sen als über­schau­ba­re Grö­ße, in der per­sön­li­che Erfah­run­gen Maß­stab für Ent­schei­dun­gen sein kön­nen. Der auf eine hand­hab­ba­re Grö­ße geschrumpf­te Bezugs­rah­men dient in der Rea­li­täts­be­schrei­bung á la Duter­te als Gegen­ent­wurf zur einer anony­men, sich stän­dig ver­än­dern­den Gesell­schaft der Moder­ne, wie Nik­las Ree­se bei der Ver­an­stal­tung im ADA aus­führ­te. Erst die Kon­struk­ti­on der Phil­li­pi­nen als Ort, an dem „man sich kennt und von mora­li­schen Erwä­gun­gen lei­ten lässt“, mache es Duter­te mög­li­ch, sei­ne alter­na­ti­ve Beschrei­bung der Wirk­lich­keit durch­zu­set­zen und sich als „Stim­me des Vol­kes“ zu geben.

Plau­si­bi­li­tät und All­tags­ver­stand gel­ten dabei als stö­ren­de Fak­ten, die im Zwei­fel nur des­halb ange­führt wer­den, um das Volk – bzw. sein „Emp­fin­den“ – zu unter­drü­cken. Auf Fak­ten auf­bau­en­de Zwi­schen­in­stan­zen oder juris­ti­sche Beschrän­kun­gen der not­wen­di­gen Maß­nah­men ver­fäl­schen des­halb den „wah­ren Volks­wil­len“. Von da bis zum Füh­rer­prin­zip ist es nur noch eine kur­ze Stre­cke. Rod­ri­go Duter­tes wie­der­hol­te Ankün­di­gun­gen zur Aus­ru­fung des Kriegs­rechts oder sein Plan, Haft­prü­fun­gen abzu­schaf­fen, sind bereits Mar­ken auf die­sem Weg. Gelingt es nicht, das von Duter­te geschaf­fe­ne Phan­tas­ma zu durch­bre­chen, steht den Phil­li­pi­nen eine dunkle Zukunft bevor, die auf Sicht eine Form von Bür­ger­krieg unaus­weich­li­ch erschei­nen lässt. Doch schon zuvor wird Duter­tes alter­na­ti­ve Erzäh­lung der Wirk­lich­keit noch vie­le Opfer for­dern.